Die Circe

„Mit eurem Charme werdet ihr die Händler becircen.“ sagt ein gewisser Horst Lichter in der Moderation der ZDF-Sendung „Bares für Rares“. Ich halte den Satz ja für extrem geschlechtsdiskriminierend. Mir tut das schon fast so weh, dass ich geneigt bin, mich zu schämen.

Ich sag mal so: Hier geht es ja eigentlich um Geschlechterrollen. Das Rollenverständnis unterliegt – wie vieles andere auch – der Entwicklung. In wohlintegrierten mittelalterlichen Gesellschaften herrschte für Kinder und Erwachsene eine eher leicht erlernbare Rollenidentität vor. Bestimmend waren relativ feste Vorstellungen von den Geschlechtern, die im normalen Alltag keine Abweichung duldeten und die gegebenenfalls sanktioniert wurden. Dieses Modell funktioniert heute noch bei Kindern bis zur Adoleszenzkrise, bei Entwicklungshemmnissen auch darüber hinaus. Mit der Industrialisierung und der Auseinandersetzung um Menschenrechte ist es allerdings in der steigenden Vielfalt von Erwartungen erforderlich, eine flexible ich-geleitete Identität zu verfolgen, um in der zunehmend komplexen Welt zurecht zu kommen. Man spielt also wagnisreich mit den nicht mehr kompatiblen Erwartungen der anderen und gleicht sie ständig mit den Erwartungen an sich selbst ab. Die Identität ist also nie im sicheren Besitz, so wie es die Rollenidentität sein konnte. Wer die aktuell erforderliche Entwicklung nicht erreicht, bleibt vorerst in einer Rollenidentität verhaftet. Man merkt es ja auch nicht sofort, wenn jemand Wahrheitsangeboten hinterher hechelt oder sich mit 40 Jahren immer von der Mutter bekochen und bebügeln lässt.

Jetzt komme ich zu den Menschen, die nicht gleichermaßen flexibel und prinzipiengeleitet mit Rollen umgehen können: Man erkennt sie also an mittelalterlichen, respektive kindgerechten Mustern von gut und böse, richtig und falsch. Bei dem Geschlechterrollenverständnis wird das besonders deutlich, weil die Entwicklung seit 200 Jahren läuft aber bis heute nicht abgeschlossen ist. Denn  viele sehen sich nicht in der Lage oder sind auch nicht in der Lage, diese Entwicklung autonom zu meistern. Es sind nicht nur Reichsbürger und andere Bewahrer, sondern eben auch sympathische Kinder mit 50 Jahren.

Was der Herr Lichter da gesagt hat, ist in den Rückzugswehen aus einer männerdominierten Gesellschaft entstanden und hat wohl bis heute zunächst in Kneipen und Betrieben, dann aber auch in Familien und der Volksfestkultur überlebt – und in unglaublich vielen Nischen der digitalen Selbstfindung. Nun könnte das ZDF dem Herrn Lichter Entwicklungshilfe geben oder ihn ganz einfach vor die Tür setzen. Aber er ist ja mutmaßlich ein wertvoller Sympathieträger und Quotenkönig, der alle zusammenhält, die, aus welchen Gründen auch immer, gern ihre Unmündigkeit beibehalten und fröhlich fortsetzen.

Es ist ja richtig, dass eigentlich jeder Mensch im Prinzip becircenden Charme einsetzen kann. Wenn man dann aber nach dem erkenntnisleitenden Interesse fragt, bleibt das Ergebnis aber mager. – Und hier geht es ja auch eher um das Reden über becircen und nicht um das Becircen selbst.

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