Auf der Lichtung

Im Licht der Freiheit betrachtet, braucht der demokratische Staat keine Monarchie. Manche Länder leisten sie sich trotzdem als historischen Zopf, der prunkvoll die nüchterne Sachpolitik dekorativ anrichtet. In demokratischen Verfassungen haben solche Monarchien nie eine entscheidende Bedeutung. Sie sind nur zum Schein eingebunden und ersparen ein gewähltes Staatsoberhaupt. Es wäre insgesamt ebenfalls prunkvoll aber auch sachgerechter, würde man Schützenfeste oder Ritterspiele als Festtage im Jahr verankern und damit an die Vorgeschichte der Demokratie erinnern. Damit würden dann Könige als Bürger mit Wahlrecht ausgestattet.

Und so stapfen nun Meghan und Harry Windsor nach ihrer Selbstbefreiung aus einem mit Geld beatmeten Königshaus durch die schöne Welt. Sie lernen den Zufall kennen und zeigen kleine bürgerliche Attitüden. Sie leben aber notgedrungen von ihrem Kapital, irgendwie extraordinär und einfach durch ihre Existenz wertvoll zu sein. Sie fallen also doch nicht so ganz aus der Rolle. Sie geben ein Interview zur besten Sendezeit und berichten zunächst ein Kapitel aus dem endlosen Fundus ihres sagenumwobenen Lebens. Danach können sie wieder für eine Weile sorgenfrei die Grenzen ihres Wohnanwesens ausloten und den Kindern wohlmöglich Spielgefährten dorthin einladen, die dann prompt das Königliche suchen würden, das ja eigentlich bereits aufgegeben war.

Es gibt auch Königinnen, die mit dem Fahrrad Brötchen holen oder für Zwerge kochen. Alles zwecklos … So einfach wird man das alles wirklich nicht los. — Und stets berichtet die Presse darüber und erinnert uns tagtäglich an die Vorkommnisse im Hochadel.

Neomarianer

Maria 2.0 will die Demokratie in die Katholische Kirche tragen. Nun ist es ja vor allem auch erstrebenswert, die Demokratie in die ganze Welt zu tragen. Aber warum sollte man damit in einer Organisation des Religiösen anfangen, die von altersher und absichtsvoll auf Ewigkeit theozentristisch ausgerichtet ist und damit keine Handhabe bietet, irgend etwas demokratisch zu ändern?

Ich meine, dass man für eine beabsichtigte Wirkung doch eher Orte aufsuchen müsste, die grundsätzlich wenigstens einigermaßen für demokratische Bestrebungen empfänglich sind. Die im Grunde lobenswerten Initiativen von Maria 2.0 werden unter Demokraten ja gut geheißen und deshalb auch öffentlich beachtet. Das Objekt der Initiative, die Katholische Kirche, kann sich bei dem Angriff der Neomarianer nur wegducken, rechtfertigen oder auflösen, wenn sie ihren Kern nicht verlieren will.

Wie wäre es denn, eine andere Organisation aufzusuchen oder eine neue zu gründen, die Theologie, Demokratie und Glaube im Portfolio verbindet? Das könnte uns ersparen, die Katholische Kirche stärker zu beachten als es ihr zusteht. Das könnte uns aber gleichfalls ermöglichen, die Welt praktisch zu verbessern.

Ich bin sogar der Meinung, dass Maria 2.0 – wenn auch unbeabsichtigt – den Zustand der Katholischen Kirche auch in der Peripherie verhärtet und zementiert. Warum machen die das? Mir ist es ein Rätsel.

Ursula – on the way to Brussels

… on the way to Brussels …

In diesen Tagen wird das EU-Parlament vorgeführt. Die Spitzenkandidaten für die Wahl zum Europaparlament werden leichtfertig beiseite geschoben und die Regierungschefs der EU zaubern Ursula von der Leyen auf die Bühne. Aber die Zustimmung des Parlaments bleibt unsicher. Dabei ist das Parlament stark genug, sich durchzusetzen, wenn sie die vorgeschlagenen Kandidaten einfach nicht wählt.

Der Rezo und die Fridays-for-Future-Bewegung leuchten die Leerstellen aus

Es gibt ja immer wieder Sachen, die man beiseite schiebt oder erst gar nicht wahrhaben will. Das macht die eine und der andere. Es werden damit Leerstellen produziert. Sie sind irgendwie da, aber man sieht sie so wenig, wie das Chaos im Wäscheschrank. Es ist wie mit Bielefeld oder wie mit dem Dornröschenschloss: Die Hecke gehört zum Alltag und das dahinter ist außerhalb aller Denkhorizonte praktisch ausgelöscht. Die Welt ist dann so, wie sie gefällt, aber eben teilweise unsichtbar. Astrid Lindgren und Andrea Nahles haben schon frühzeitig darauf hingewiesen, dass es so etwas in Pippi-Langstrumpf-Manier geben sollte oder auch nicht. Leerstellen sind jedenfalls Altlasten nach dem Badbank Modell, die das  Leben scheinbar schöner machen. Es werden alle medialen Verfahren eingesetzt, dass es auch so bleibt. Das Ergebnis ist eine ritualisierte Politik mit inszenierten Auseinandersetzungen und Lösungen, die so stark propagiert werden, dass man auch einen Entscheidungsstau als dynamische Politik verkaufen kann wie ein E-Auto. So wird endlos über die Erfolge der Klimapolitik berichtet, obwohl sie sträflich vernachlässigt wird.

Der YouTuber Rezo mit seinem Film „Die Zerstörung der CDU“ und mit seiner bemerkenswerten Reichweite ist in die Welt der Politik ohne Vorahnung und Vorwarnung eingebrochen. Obwohl – man hätte wissen können, dass so etwas kommen kann. Rezo ist der lang erwartete, liebende Prinz, der mit zurückbebender Leidenschaft und scharfem Schwert die Leerstellen offenlegt und großartige Denkgebäude hinter den Hecken offenlegt. Die FFF-Bewegung hatte bereits in den letzten Monaten fachlich und emotional vorgearbeitet. Die Zeit war reif. Die Politik kann weder den FFF-Aktivisten noch dem Rezo etwas entgegensetzen. Darauf sind die meisten Parteien nicht vorbereitet. Aber der Bürger freut sich über die verlorengegangene Themen und Blickpunkte auf die Welt. Es kann also nicht mehr so weitergehen und Rezo ist das Aufbruchssymbol, so wie die FFF-Bewegung auch. Die Chancen stehen gut wie lange nicht mehr, dass die tradierte Politik nicht mehr selbst die Themen wählt oder verschüttet.

Die Wahl zum Europaparlament 2019 zeigt jedenfalls überdeutlich, dass der Stolz auf Besitzstände vom Wähler nicht mehr honoriert wird, auch nicht die Aufrechnung konstruierter Erfolge und ihre Verlängerung in Pläne, die den Weg ihrer eigenen Realisierung verstopfen. Es zählt allein die Umsetzung in erlebbare politische Ergebnisse und ein kleiner Vertrauensvorschuss, den es bei schlechten Erfahrungen einfach nicht gibt. Mit den Stimmanteilen kann es also, schneller als bisher gedacht, ganz scharf nach oben oder nach unten gehen. Die Demokratie lebt!

Oh Schreck — Bannon kommt!

Steve Bannon, der glücklose Vordenker Trumps, will nun Europa für die egozentrisch-rücksichtslose Rechte erobern. Er ist schon angereist. Man könnte auch sagen: Schon wieder ein us-amerikanischer Supermarkt, nachdem bereits Wal-Mart mit seinem Brückenkopf in Deutschland gescheitert ist. Denn wir haben hier unsere, in Amerika weitgehend unbeachtete, Eigenart und sind nicht einmal rechtsradikal anzufixen. Selbst Missionare für alle Gesellschaftslagen sind in Europa nicht selten verfügbar.
Okay – wir sollten Herrn Bannon ernst nehmen. Aber noch ist er nichts anderes als ein zugereister Besserwisser mit bekannt kruden Ideen, die die absolute Mehrheit der Menschen abstoßend finden. Wir wären aber nicht dem Grunde nach demokratisch verfasst, gäbe es nicht doch Splittergruppen, die fast so denken wie Bannon und die die Demokratie so auswaiden wollen, dass sie allein als Hülle für alle innovationsfeindlichen, konservativen Rechthaber überdauert. Es wäre eine Aufwertung dieses finsteren Gesellen, würden wir nun allein ihm zu Ehren Symposien veranstalten und Aktiongruppen gründen, die widersprechen und sich hier und auch global für eine nicht umdeutbare Menschlichkeit einsetzen, also etwas, was unter vereinten Nationen schon lange selbstverständlich ist. Gleichwohl sollten wir – das aber auch immer schon – im alltäglichen grenzenlosen Dialog Diversity & Inklusion betreiben und das auch in Institutionen, die der Befähigung der Menschen zum selbst- und mitverantwortlichen Leben in einer gerechten und friedfertigen Welt verpflichtet sind. Das sind nicht nur (Hoch-) Schulen und Kindertagesstätten, sondern auch Familien und Nachbarschaften. Der Gedanke an eine rechtspopulistische Besserwisserei taucht nämlich nur auf, wenn die demokratischen Verhältnisse hinter ihren Erwartungen zurück bleiben und der Wähler für sein Leben einfach nicht mehr daran glaubt, dass das demokratische Leben – wie versprochen – gerechter, zuverlässiger, gesünder und wohlständiger wird und sich politische Zirkel bürgerverdrossen und letztlich unbeachtet in ihre Gremien zurück ziehen.
Kümmern wir uns um Menschen, dann kümmern wir uns ganz nebenbei und auch höchst wirkungsvoll um lebhafte Parlamente und reisende Weltverbesserer in der Art des Herrn Bannon.

Liebe türkischen Mitbürger …

Die Freiheitsrechte gelten universell. Daran gibt es nichts zu rütteln. Die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit gewährleisten, dass die Freiheitsrechte angewandt werden können. Es hilft nicht, viele Argumente zusammen, warum dieses oder jenes demokratisch sein soll. Denn die Demokratie ist nur dadurch dauerhaft, dass man Argumente sucht, warum dieses und jenes nicht demokratisch ist, damit man es verbessern kann. Demokratie ist also nie im sicheren Besitz. Sie geht verloren, wenn man meint, sie im sicheren Besitz zu haben.
Die Türkische Regierung hat mit weitreichenden Folgen demokratische und rechtsstaatliche Strukturen abgeschafft, weil sie hinderlich sind, eine Präsidialsystem zu etablieren, das von oben herab den Leuten sagt, was für sie gut ist. Die Geschichte ist voll von solchen Versuchen, die stets mit dem Leid und der Armut gleichgeschaltetet Menschen zu Ende gegangen sind, obwohl sie sich selbst als menschenfreundlich inszenieren.
Das in der Türkei vorgesehen Referendum ist der letzte Schritt, einen legitimierten Überbau in Politik und Verwaltung für eine bereits weitgehend entdemokratisierte Gesellschaft zu schaffen. Der Ausnahmezustand der letzten Jahre wird damit als Regel installiert. Die angeeignete Machtfülle des Präsidenten bleibt damit unverrückbar. Sie setzt auf regierungsabhängige Gerichte, eine unwirksame Opposition und eine gleichgeschaltete Presse. Eigenwillige Richter, Oppositionspolitiker und Journalisten sind in der Haft ausgeschaltet.

Wenn sie also abstimmen, stimmen Sie für Vielfalt und Freiheit, also mit Nein | Hayır.
Sie sollten wissen, dass sich mit der Abstimmung für das regierungsseits vorgegeben Ja | Evet zwangsläufig gegen eine Mitgliedschaft in der EU und für eine Isolation von der Gemeinschaft demokratischer Staaten stimmen. Eine nationale Selbstbeweihräucherung mag zwar im Moment für ein Gefühl der Solidaritär und Unverletzbarkeit Beiträgen, überdauern und zukunftsträchtig ist das aber nicht.
Es wäre auch für mich ein Verlust, wenn es so kommen würde.

DITIB: Wenn ein Staat Religion an den Mann bringt und exportiert

Im Grunde seit Martin Luthers Sicht auf die Welt oder doch wenigstens seit der Französischen Revolution ist es eine Errungenschaft, den Staat ohne ein kompatibles Religionsverständnis zu betreiben. Die Trennung von Staat und Kirche ist uns zur Selbstverständlichkeit geworden. Das heißt, dass die Religionsausübung in Rahmen weltlichen Rechts zu erfolgen hat und dass sich der Staat für seine Zwecke nicht in die Religionsausübung eingreifen darf.

Dieses Verhältnis hat sich allgemein bewährt, wenn es auch weiterhin Streitereien über tradierte Besitzstände der Kirchen gibt.
Dem Religionsverständnis des Islam ist das überwiegend fremd und damit wechselwirkend fremd in Staaten, die hauptsächlich islamisch geprägt sind. Die Religion des Islam hat selbstverständlich eine derart weltlich Seite, dass sie nicht nur sagt, was gut und richtig oder aber verboten ist, sie trachtet danach, Wirkregeln mit Gesetzeskraft vorzugeben. Es gibt also ein islamisches Recht, das aus Offenbarungen und nicht aus dem Willen des Volkes abgeleitet ist und das sich das Volk mit Hilfe der Religion zu eigen machen soll. Diese Scharia unterliegt in der Praxis unterschiedlichen Deutungen und hat vor allem dann eine konkurrierende Wirkung zum staatlichen Recht, wenn irgendwo die Bindung an ein bestimmtes Islamverständnis absolute Bedeutung zugesprochen wird.
Das neuzeitliche Demokratieverständnis, das auf den Freiheitsrechten basiert, ist mit dem organisierten Islam nur selten vereinbar. Es ist freilich nicht auszuschließen, dass sich unabhängige Moslems in Gemeinden innerhalb der staatlichen Rechtsordnung zufrieden zusammenfinden. Allzu häufig ist das aber nicht der Fall, wie die ins Gerede gekommenen salafistischen Gemeinden zeigen.
Nun war es lange Zeit so, dass die 3,5 Millionen Türken in Deutschland in der Religionsausübung keine allgemeine öffentliche Aufmerksamkeit fanden. Die Idee zentraler Moscheen entwickelte sich spät und zunächst auch langsam. Das änderte sich, als die türkische Regierung ein Religionsministerium einrichtete und später mit der Regierung Erdogan, Politik über dieses Ministerium betrieb und dazu die Religion staatsdienlich instrumentalisierte. In Deutschland wurden die Tendenzen, Politik über Moscheen und deren Imame zu betreiben eher folkloristisch oder als Spielart einer respektablen Weltreligion betrachtet. Dabei ist seit vielen Jahren klar, dass die in Deutschland vom türkischen Staat betriebenen DITIB-Moscheen, vorrangig für den türkischen Staat arbeiten, der auch die Imame anstellt und den Islam selbst für seine Zwecke spezifiziert. Alternativen dazu gibt es in Deutschland kaum. Freigläubigen und eigenwilligen Türken wird das Leben schwer gemacht. Der Deutsche Staat bekommt das nur mit, wenn entsprechende Attacken in strafbaren Übergriffen enden.
Dass nun deutsche Lehrer von der DITIB bespitzelt werden verwundert nicht. Wahrscheinlich gibt es das als Eigenleistung dieser Gemeinden schon lange.
Dass die DITIB auch als wichtiger Kooperationspartner deutscher Ministerien arbeitet, um einen Islamunterricht in deutschen Schulen zu etablieren, war bisher darin begründet, dass die DITIB im Vergleich die überwiegende Anzahl moslemischer Gläubiger hinter sich hat. Nicht im Blick war bisher das staatlich reglementierte Religionsverständnis, das sich weder mit einem diskursiven Islamverständnis noch mit einer demokratischen Daseinsgestaltung verträgt.
Was und wie jemand glaubt, das hat den Staat in seinem Selbstverständnis nicht zu interessieren. Wenn – wie im Fall der DITIB – allerdings geltendes Recht unterlaufen wird und heilige Bücher so gedeutet werden, dass die türkische Regierung per se im Recht ist, dann ist es Zeit, auch einmal die Verfassungsfrage zu stellen. Offenbar etabliert sich hier unter der Religionsfreiheit eine Wahrheitsorganisation, die fremden Mächten dient und in die demokratisch verfasste Gesellschaftsordnung hineinregnet.
Herr Erdogan hat ja schon oft seinen Wahlkampf nach Deutschland getragen und Wohlverhalten für die türkische Sache und den Himmel eingefordert. Jetzt verankert er sein Standbein in Deutschland.

Bei alldem ist es wohl erforderlich, der DITIB die Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland zu untersagen. Sie ist als staatliche türkische Einrichtung nämlich nicht selbständig reformierbar. Die Bildung unabhängiger Glaubensgemeinschaften als ein Ersatz wäre dagegen zu fördern.

That’s it: Brexit!

Der Wille des Volkes gilt den Demokraten als der Kern jeder Politik.

Volksabstimmungen, wie jetzt in Großbritannien, deuten wir deshalb gern als der Weisheit letzter Schluss. Die praktische Annäherung an den Volkswillen hat dagegen auch andere Spielarten der Demokratie hervorgebracht, allen voran den für den Einzelnen repräsentativen Parlamentarismus. Es ist ja an Beispielen schnell klar, dass das Mittel der Volksbefragung schnell in die Irre führt. Gefragt, ob man Steuern zahlen will, sagen alle gleich nein. Und bei der Bestimmung des Fernsehprogramms per Abfrage wäre das Ergebnis gleich den Einschaltquoten. Sport und seichte Unterhaltungen kicken Kultur und mit ihr die ganze Vielfalt in politischen Magazinen, Kleinkunst und alle Themen von und über Minderheiten ins Off. Filme mit Tieren gehen natürlich auch immer.
In der Schweiz, die sich auch aus Gründen der Überschaubarkeit einen Rest direkter Demokratie traditionell erhält, sieht man in der letzten Zeit das Gleiche wie jetzt in Großbritannien: Nationalistische Gruppierungen mit festem Feindbild sorgen für Stimmung gegen Minderheiten und suchen damit die Volksabstimmung. Von den Grundrechten bleiben ihnen nur noch die groteske Überhöhung der abgefragten Selbstbestimmung, in der Rassismus, Minderheiten und die Verantwortung für das große Ganze als Themen keine Rolle spielen. Man will einfach nur — und denkt an den Verfassungen und Menschenrechten dieser Welt vorbei.
In Großbritannien ist es nun so, dass man sich auf einen Parlamentarismus geeinigt hat, an dem der Bürger vor allem über Wahlen und die Teilhabe an der Politikgestaltung von Parteien, Verbänden usw. beteiligt ist. Das parlamentarische System hat den Vorteil, dass im Kräfteverhältnis der Wahlergebnisse sehr viel mehr Sachverstand und Meinungsbildung die Chance auf eine gute und verantwortbare Politik erhöht. Es ist allerdings nicht zwangsläufig so. Es gibt ganze Kabarettprogramme darüber, wie der Profipolitiker den Kontakt zum Volk verliert und es zum Opfer seiner Entscheidungen macht. Das funktioniert nicht nur am Beispiel des EU-Parlaments. Menschenwerk ist fehlbar und überall der Kritik auszusetzen. Gleichwohl gilt der Parlamentarismus als eine gut bewährte Form der Demokratie, aber eben nicht als der Weisheit letzter Schluss.
Das Konzept der Rätedemokratie zeigt sich zwar noch weit demokratischer, hat sich aber trotz einiger Versuche bisher nirgendwo etabliert. Es setzt auf den mündigen Bürger, der allerorts sein politische Position prüft und zielgerichtet und aktiv einbringt. Bürger im lustig chilligen Rückzug oder Bürger, die bereits anderweitig ausgelastet sind, wären mit einem Rätesystem per se überfordert und würden eines Tages bestimmt randständige beklagen, dass alles anders läuft als als sie eigentlich wollen würden.

Großbritannien hat mit der Volksbefragung gegen den Verbleib des Landes in der Europäischen Union eigentlich noch gar keine Entscheidung getroffen, sondern lediglich des Volkes Stimme auf den Punkt gebracht. Damit hat man eine moralisch verbindliche Position organisiert, die die zweifelhafte Qualität aller Entscheidungsargumente und Entscheidungsmotive schnell vergessen lässt. Im Parlament ist also jeder Abgeordnete frei, sich auch gegen die Stimme des Volkes zu positionieren. Es ist also besonders spannend und entscheidend, wie nun das Parlament abstimmen wird. So, wie die Dinge liegen, wird das Parlament ohnehin zu 48% gegen die Vorgaben des Volkes sein, das ja, wenn es jünger wäre mit Sicherheit die gegenteilige Entscheidung getroffen hätte. Das belegen die Wahldaten.
Es ist also beileibe nicht so, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat, dass das Parlament das Votum des Volkes nur verwaltet und in diesem Fall einmal dem Volk zu folgen hat. Die Parlamentarier haben nämlich „im Namen des Volkes“ selbst ein Mandat, das eigentlich auch korrigierend wahrgenommen werden kann. Parlamentarismus und direkte Demokratie können im Widerspruch stehen und zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. In diesem Fall ist aber der Widerspruch nach der Verfassung, also in diesem Fall parlamentarisch zu bewältigen. Bei der nächsten Wahl kann dann der Bürger wieder in das Geschehen eingreifen.

Wenn man nun bedenkt, dass vor der Volksbefragung der Briten, also in der Wahlwerbung, mit geradezu irrsinnigen Argumenten und gegen die Faktenlage die EU zum Feindbild stilisiert wurde und der kulturfremde Flüchtling als Angreifer auf die gute britische Tradition gebrandmarkt wurde, dann könnte man das alles als eine Inszenierung mit dem willfährigen Bürger begreifen: Man will von den Unzulänglichkeiten in parlamentarischen Entscheidungsfindungen ablenken und den Weg wertkonservativer und rücksichtsloser Rassisten gehen. Die ebenfalls rücksichtslose und hochgerechnete Einzelmeinung zur traditionsfesten Abwehr von Feinden wird als Entscheidung durchgesetzt.
Wer die Tür zuschlägt, ohne den Schlüssel bei sich zu haben, hat ein Problem. Wenn es allerdings alle so machen, dann wird es trotzdem lustig.

Rousseaus unterschied vorausschauend schon im 18. Jahrhundert zwischen dem Willen aller Einzelnen und dem Gemeinwillen. Das sind eben zwei völlig,unterschiedliche Dinge, obwohl sie sich zum Verwechseln ähnlich sehen.

Frau Merkel skandalisiert sich nun selbst

Sie will direkt mit dem Bürger sprechen und übergeht damit die Volksvertreter.

Die Regierung sucht also jetzt den Dialog mit dem Bürger. Die Kanzlerin Merkel betont heute, dass man dem Bürger ohne Filter zuhören wolle um zu erfahren, was er will. Sie kündigt aber auch an, dass man das alles auch fachgerecht verrechnen muss, damit die Eindrücke handhabbar werden. Die Besonderheit des Dialogs, nämlich die Wechselseitigkeit, wird dabei umgedeutet, weil es offenbar ja gar nicht darum geht, was die Regierung den Bürgern zu sagen hätte.
Entweder will die Bundesregierung das Parlament entmachten, denn dort sitzen doch, wie in der Verfassung vorgesehen, die Volksvertreter, oder aber der Regierung und dem Parlament ist es ganz egal, was die Bürger denken. Deshalb bastelt man sich mit empirischen Verfahren den neuen Modalbürger. Es ist auch denkbar, dass sie das parlamentarische Prinzip mit der Volksvertretung in der Regierung überhaupt nicht verstanden haben.
Wir sehen schon seit Jahren, dass Expertenkommissionen und Gutachter Politik machen. Und wir warten ja schon lange darauf, dass die Meinungsforschungsinstitute die Parlamente besetzen. Sie wissen ja, wie Google und Konsorten auch, wen und was wir eigentlich wollen. Unser Widerspruch ist zwecklos! Und jetzt brauchen wir ja das bewährte Verfassungssystem nicht einmal mehr mit unserer Stimmabgabe zu den üblichen Wählen zu speisen, weil wir ja den direkten Kanal zur Kanzlerin bekommen.

Ich halte dagegen viel davon, wenn der eine oder andere Volksvertreter sich sein Mandat verstärkt bei den Bürgern holt und der Bürger ihm auf die Pelle rückt, um sein Mandat mit Inhalt und Ziel auszustatten.
Es könnte alles so bleiben wie es ist, wenn wir das ausfüllen, was das Grundgesetz vorgibt. Es ist unbestritten, dass es so schlecht nicht ist.

Der Dialog mit dem Bürger mag Sympathien für die Politik wecken. Das täuscht aber darüber hinweg, dass der Bürger immer mehr mit guten Gefühlen ausgestattet wird, die zu haben, es keinen guten Grund gibt.
Die Verdrossenheit der Politik gegenüber dem Bürger steuert auf einen Höhepunkt zu.

Spielart des globalen Altruismusgewerbes

Wer weiß es besser als der Beobachter von Facebook und ähnlich heißgelaufenen Webcommunitys:

Wer Zustimmung will, braucht knallharte, einfache Positionen, damit er likefähig bleibt. Ob die Position ethischen, fachlichen und praktisch Ansprüchen genügt, ist dabei unwichtig. Positionen mit Feindbild entsprechen also sehr gut dem Ideal der unbedingten Likefähigkeit.

Jetzt sammeln wenige Manager des Unheils nach diesem Muster verstörte Bürger um sich und um ein Akronym, das eine Bewegung nahelegt, wo es keine gibt. Und in der Gegenbewegung sammeln nun in der Folge selbsternannte Bessermenschen in Pseudopetitionen die „Likes“ für eine Gegenbewegung. Und alle aus dem simulierten antifaschistischen Widerstand machen mit.
Dabei geht es – wie schon in den Wirren der Weimarer Republik – nicht darum, wer die größte Zahl hinter sich weiß, sondern um den herrschaftsfreien Dialog der Subjekte.
Anstatt einer unregierbaren Frontenarithmetik per Mausklick und der Eingliederung in Marschformationen der Widersacher sollte das Gespräch von Angesicht zu Angesicht genutzt werden, die versäumten Grundlagen zu erarbeiten, die ein selbst- und mitverantwortliches Leben in einer vielfältigen, inkludierten Welt erforderlich machen. – Dass das nicht so einfach ist, räume ich ein. Das ist aber auch gut so!
Es wird aber auch unvermeidlich sein, die Bürgerverdrossenheit der professionalisierten Politikerkaste auf den Prüfstand zu stellen und Gerechtigkeit im Wohlstand auf den Weg zu geben anstatt so zu tun, als seien die Bürger verdrossen. Wenn der Bürger den Politiker ablehnen, dann nicht deshalb, weil der Politiker Maut, Soli usw. nicht hinreichend vermittelt hat, sondern weil der Bürger es nicht will, weil es ungerecht ist und den Wohlstand einschränkt.
Nachtrag:
Jetzt passiert, was ich vermutet habe. Das globale Altruismusgewerbe macht den Durchmarsch:
Wer bei #nopegida unterschrieben hat, bekam von Change, der Plattform für Onlinepetitionen, die Empfehlung, das auch bei der Pro-„Pegida“-Aktion zu tun, die nun ebenfalls Gefolgsleute sammelt.
 
Es ist daran zu erinnern, dass die sogenannten Onlinepetitionen ein Geschäft sind, aber keine Petitionen im Sinn des Grundgesetzes, die im Artikel 17 geregelt sind.
 
siehe auch