MOMENT MAL • Wahlbeteiligung: NRW 55,5% •

Das bedeutet ja, dass man die Stimmanteile der Parteien halbieren muss, wenn man wissen will, welcher Anteil aller Wahlberechtigten hinter ihnen steht. Jedenfalls wird die Legitimation der Politik durch den Bürger – „Er hat uns den Regierungsauftrag gegeben“ – immer fragwürdiger. Zumal ja auch nirgendwo steht, dass die stärkste Partei die Regierung bildet und den Kanzler stellt. Akteure sind allein die gewählten Volksvertreter.

Der „Politikverdrossenheit“ der Bürger geht meist eine Bürgerverdrossenheit vieler Politiker voraus. 

Den Interviews der Nichtwähler merkt man in diesen Tagen deutlich an, dass es an politischer Bildung mangelt. Es gäbe möglicherweise sogar gute Gründe, nicht zu wählen. Aber man hört sie nie.

Es ist ein Griff ins Klo der werbewirksam agierenden Spindoctoren, wenn man dem Bürger billige Ersatzmotivationen zur Wahl anbietet und zum Beispiel das Wahlalter senkt, Kinder in Pseudoparlamente verschiebt, bei Kindern in der Kindergartengruppe ein Votum einfordert, die Leute in Parlamenten schnuppern lässt und für die fragwürdige Briefwahl  auch noch wirbt, allein um die Wahlbeteiligung wieder etwas hoch zu treiben. Die Bewährungsprobe für den Politiker ist, wenn er in seiner Arbeit auf Menschen trifft und nicht Kontakt zum Bürger sucht und dann auch noch Kugelschreiber mitbringt.

Über die politische Bollwerkstategie im Jahr 2020

Bollwerk (Symbolbild)

Die eher etablierten Parteien in Deutschland haben in den letzten Jahren alte Hilfslinien zum unverrückbaren Bollwerk ausgebaut und ideologisch aufgeladen. Sie nennen das Hufeisentheorie oder Äquidistanzprinzip, um der Sache eine nur scheinbar wissenschaftliche Weihe zu geben. Hinter dem Bollwerk liegen dann die Parteien, die man partout aus der politischen Willensbildung ausklammern will, weil sie das Selbstverständnis im Binnenbereich angreifen und Ziele verfolgen, mit denen man sich so wenig anfreunden kann, dass sie als staatsgefährdend aussortiert werden. Die geheimdienstliche Beobachtung schafft immer wieder Material herbei, die Ausgrenzung zu rechtfertigen. Das Material erscheint beliebig und hält meistens einer Prüfung nicht stand.

In der praktischen Politik hat das Folgen. Es prägt nicht nur die politische Arbeit innerhalb und außerhalb solcher Grenze höchst unterschiedlich, es trifft auch die verfassungsrechtlich verankerten Verfahrensweisen in Parlamenten. In den Thüringer Tagen des Februar 2020 gab es für CDU und FDP die Parteivorgabe, dass rechtsaußerhalb die AfD und linksaußerhalb die LINKE ohne wenn und aber ausgeschlossen waren, sich – wie auch immer – zu einer Kooperation zu verabreden. Der Wähler hatte aber das Parlament so gewählt, dass eine Regierungsbildung unter Beibehaltung der Ausgrenzungsdoktrin nicht möglich sein würde. Dabei hatte das Wahlvolk den bisherigen Regierungschef und seine Partei, die LINKE, mit einem beachtlichen Zuwachs an Wählerstimmen ausgestattet und sich in Umfragen mit großer Zufriedenheit über seine Arbeit geäußert. Unter dem Schwert der Ausgrenzungsdoktrin waren die Akteuere von CDU und FDP also handlungsunfähig für die Entscheidungsfindung im Parlament, ohne dass das allerdings öffentlich auffallen durfte. Man argumentierte gewagt und gewagter mit dem Tenor, dass die anderen Schuld sind, um wenigstens in der Berichterstattung noch vorzukommen. Und weil so eine Fraktion einer Partei eine heterogene Ansammlung ist, gab es auch gedankliche Vorstöße, die Doktrin in irgendeine Richtung zu kippen. Was da so gedacht wurde, das ist bei der nur 5-köpfigen Fraktion der FDP noch unerheblich. Bei der CDU weiß man aber, dass sich in den östlichen Bundesländern ein Flügel kultiviert hat, der eine deutliche Affinität zu Vereinigungen hat, die eher dem ausgegrenzten rechten Spektrum zuzuordnen sind. In der Werte-Union werden beispielsweise Werte vertreten, die die eigentlichen programmatischen Werte der CDU mit rechtem Gedankengut neu interpretieren und ausweiten. Es war also schließlich ein bloßes Symbol, Handlungsfähigkeit unter doktrinären Vorgaben zu demonstrieren, und einen FDP-Mann zum Regierungschef zu wählen, indem die AfD der FDP und der dahinter lauernden CDU fintenreich ihre Stimme für eine Mehrheit gab. Dass das keinen Bestand haben würde, war vielen Akteuren von CDU, FDP und eventuell AfD aber erst nach heftigem öffentlichem Widerstand deutlich.

Bei alledem fällt auf, dass das Reden der CDU von der Mitte die Bedeutung hat, sich selbst in der Mitte des Spinnennetzes zu verorten, gleichgültig, wo man tatsächlich ist.Die Mitte‟ steht wie eine Reviermarkierung sogar vorn auf dem gern präsentierten CDU-eigenen Rednerpult. Man ist damit gleichermaßen Herr über die Bestimmung, was peripher oder gar hinter dem Bollwerk der Doktrin draußen ist. Die Mitte ist dabei abgeleitet vom Mittelwert in der Gaußschen Normalverteilung. Statistiker wissen, dass dort am ehesten die Stimmen für Wahlgewinner zusammenkommen. Das hat sich herumgesprochen. Man ist nach diesem Muster stets dick in der Mitte, wenn man rechts und links potentielle Verbündete im Innenbereichen hinzurechnet, so wie man es gerade braucht. Allerdings wird – wie im gegebenen Fall – das Reservoir knapp, wenn die ausgegrenzten – warum auch immer – den starken Zuspruch des Wählers finden.

Es wird Zeit darüber nachzudenken, und das gilt nicht nur für die Welt der Politik, was einem bei einem doktrinären Verfahren so alles verloren geht außer der Mehrheit. Offenbar ist die Welt ressourcenreicher und vielfältiger, wenn wir über unsere selbstgewählten Bollwerkrand hinaus blicken.

Es ist beileibe nicht so, dass der selbstgewählte und errechnete Durchschnittsbürger das Maß aller Dinge ist. Deshalb habe ich einmal das eigentümliche Verhältnis von Durchschnittsbürger und Außenseiter in der Abfolge von 16 Thesen prinzipiell ausgeleuchtet und also die Bewertung verabscheuungswürdiger Außenseiter und ihrer Gruppierungen erst einmal weggelassen. Es ist – wenn man den Thesen folgt – einfach, damit politisch motivierte Ausgrenzung in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Wir sollten das unbedingt tun!

Vom Durchschnittsbürger und vom Außenseiter

1 • Den Durchschnittsbürger gibt es nicht wirklich, weil er eine statistische Größe ist.
2 • Der Durchschnittsbürger ist jedoch gerade deshalb wichtig. Denn er verhält sich genau so, wie man es am ehesten von einem (x-beliebigen) Menschen erwarten kann. Insofern kann gerade er als vollkommen normal eingestuft werden.
3 • Wenn die Menschen in ihrem Verhalten, Denken und Fühlen dem Durchschnittsbürger nahekommen, dann können sie problemlos leben, weil sie sich fast naht- und reibungslos in die herrschenden Erwartungen einfügen und deshalb als normal gelten.
4 • Der Durchschnittsbürger ist (statistisch) so festgelegt, dass jeder Bürger – wenn auch nur ein wenig – durch sein Verhalten, Denken und Fühlen den Durchschnittsbürger und damit die Richt-Schnur für problemlos-angepasstes Leben mitbestimmt, unabhängig
davon, wie er sich tatsächlich verhält.
5 • Erhebt man den Durchschnittsbürger zum Ideal, dann ergeben sich jedoch Schwierigkeiten: problemloses Sicheinfügen geht mit dem Verzicht auf Mitbestimmung und dem Verzicht auf Zielsetzung einher, denn als Durchschnittsbürger bestimmt man ja (scheinbar) immer nur das mit, was man immer schon vorfindet. Das Ziel des Durchschnittsbürgers wird somit die Gegenwart als status quo.
6 • Die Frage nach dem wünschenswerten Durchschnittsbürger (der Zukunft) kann nur einer Abweichung vom Ideal des (statistischen) Durchschnittsbürgers den Weg ebnen.
7 • Der Wille des Durchschnittsbürgers (volonté de tous) repräsentiert – wenngleich er oft bestimmend ist – offenbar nicht den Gemeinwillen (volonté général).
8 • Das Gegenstück zum Durchschnittsbürger ist der Aussenseiter. Auch ihn gibt es nicht und auch er ist wichtig, denn er verhält sich genau so, wie man es von keinem anderen Menschen erwarten kann.
9 • Der Außenseiter entgeht der gleichmachenden Kraft der statistisch erfassten Norm des Durchschnittsbürgers und erhält sich die Möglichkeit der Mitbestimmung und Zielsetzung durch seine Freiheit zum Anderssein. Er ist ein Jemand und nicht ein Ergebnis und Abklatsch einer statistischen Ermittlung.
10 • Doch der Außenseiter hat mit Schwierigkeiten zu rechnen: er hat – verständlicherweise – die dominierende Macht des Durchschnittsbürgers (volonté de tous) gegen sich; der Außenseiter gefährdet das „problemlose“ Leben des Durchschnittsbürgers.
11 • Ihre Probleme müssen der Durchschnittsbürger und der Außenseiter selbst lösen, auch die, die sie sich gegenseitig verursachen. Dennoch gilt:
* Der Durchschnittsbürger ist auf den Außenseiter angewiesen, wenn er sich von seinem statistischen Phantom befreien will.
* Der Außenseiter ist auf den Durchschnittsbürger angewiesen, wenn er in der Wirklichkeit (die in erster Linie die des Durchschnittsbürgers bleiben wird) (über-) leben will.
12 • Durchschnittsbürger und Außenseiter sind einander nicht gleichgültig, sie sind gleich-gültig.
13 • Der Durchschnittsbürger kann dem Außenseiter zu einem Vorbild werden, das sich durch Verhaltenssicherheit und Kalkulierbarkeit auszeichnet.
14 • Der Außenseiter kann dem Durchschnittsbürger zu einem Vorbild werden, das sich durch Risikofreude und soziale Kreativität auszeichnet.
15 • Mehr noch: Der Außenseiter kann – errechnet man den Durchschnittsbürger seiner Sub-Kultur – sogar mit diesem identisch sein und damit sich selbst und anderen gegenüber anders in Erscheinung treten, als er tatsächlich ist. Er tritt dann als ein Außenseiter auf und bleibt doch selbst der Durchschnittsbürger, dem er entgegentritt.
16 • Durchschnittsbürger und Außenseiter müssen ihre Leitidee relativierbar halten, wenn sie der destruktiven Macht der selbstgemachten Wahrheit entgehen wollen.

Der Rezo und die Fridays-for-Future-Bewegung leuchten die Leerstellen aus

Es gibt ja immer wieder Sachen, die man beiseite schiebt oder erst gar nicht wahrhaben will. Das macht die eine und der andere. Es werden damit Leerstellen produziert. Sie sind irgendwie da, aber man sieht sie so wenig, wie das Chaos im Wäscheschrank. Es ist wie mit Bielefeld oder wie mit dem Dornröschenschloss: Die Hecke gehört zum Alltag und das dahinter ist außerhalb aller Denkhorizonte praktisch ausgelöscht. Die Welt ist dann so, wie sie gefällt, aber eben teilweise unsichtbar. Astrid Lindgren und Andrea Nahles haben schon frühzeitig darauf hingewiesen, dass es so etwas in Pippi-Langstrumpf-Manier geben sollte oder auch nicht. Leerstellen sind jedenfalls Altlasten nach dem Badbank Modell, die das  Leben scheinbar schöner machen. Es werden alle medialen Verfahren eingesetzt, dass es auch so bleibt. Das Ergebnis ist eine ritualisierte Politik mit inszenierten Auseinandersetzungen und Lösungen, die so stark propagiert werden, dass man auch einen Entscheidungsstau als dynamische Politik verkaufen kann wie ein E-Auto. So wird endlos über die Erfolge der Klimapolitik berichtet, obwohl sie sträflich vernachlässigt wird.

Der YouTuber Rezo mit seinem Film „Die Zerstörung der CDU“ und mit seiner bemerkenswerten Reichweite ist in die Welt der Politik ohne Vorahnung und Vorwarnung eingebrochen. Obwohl – man hätte wissen können, dass so etwas kommen kann. Rezo ist der lang erwartete, liebende Prinz, der mit zurückbebender Leidenschaft und scharfem Schwert die Leerstellen offenlegt und großartige Denkgebäude hinter den Hecken offenlegt. Die FFF-Bewegung hatte bereits in den letzten Monaten fachlich und emotional vorgearbeitet. Die Zeit war reif. Die Politik kann weder den FFF-Aktivisten noch dem Rezo etwas entgegensetzen. Darauf sind die meisten Parteien nicht vorbereitet. Aber der Bürger freut sich über die verlorengegangene Themen und Blickpunkte auf die Welt. Es kann also nicht mehr so weitergehen und Rezo ist das Aufbruchssymbol, so wie die FFF-Bewegung auch. Die Chancen stehen gut wie lange nicht mehr, dass die tradierte Politik nicht mehr selbst die Themen wählt oder verschüttet.

Die Wahl zum Europaparlament 2019 zeigt jedenfalls überdeutlich, dass der Stolz auf Besitzstände vom Wähler nicht mehr honoriert wird, auch nicht die Aufrechnung konstruierter Erfolge und ihre Verlängerung in Pläne, die den Weg ihrer eigenen Realisierung verstopfen. Es zählt allein die Umsetzung in erlebbare politische Ergebnisse und ein kleiner Vertrauensvorschuss, den es bei schlechten Erfahrungen einfach nicht gibt. Mit den Stimmanteilen kann es also, schneller als bisher gedacht, ganz scharf nach oben oder nach unten gehen. Die Demokratie lebt!

Konsultative Bürgerbefragung oder die Mehrheit der Deutschen

In der vorherrschenden Demokratie gilt der Bürger als Souverän. Er sagt letztlich, was zu tun und zu lassen ist. Dem Demokratietheoretiker Rousseau ist bereits im 18. Jahrhundert aufgefallen, dass der einzelne Bürger zwar für die Meinungsbildung wichtig ist, aber nicht über ein Hochrechnungsverfahren die Politik bestimmen sollte. Rousseau unterscheidet deshalb den Willen vieler Einzelner (volonté de tous) vom Gemeinwillen (volonté générale), der schließlich als ausschlaggebend dafür angesehen wird, was politisch verwirklicht werden soll und dann auch nur sehr komplex zustande kommt. Es geht also um weit mehr als das, was einer sagt oder mehrere Menschen sagen. Und erst recht um viel mehr als das, was einer sagt, der behauptet, für das Volk zu sprechen.

Wir haben deshalb nach vielen Experimenten mit der Demokratie herausgearbeitet, dass in Verbindung mit einer zuverlässigen Rechtsstaatlichkeit die Auseinandersetzung mit politischen Positionen noch am ehesten einen Gemeinwillen hervorbringt.

In der direkten Demokratie, in der sich alle Akteure von Angesicht zu Angesicht sehen, geht es ursprünglich um das Palaver, die Debatten im Vorfeld. Die Abstimmung ist also nur der Schluss, also weit mehr als ein individuelles Handheben. Sie ist an das Erfordernis zum Gemeinwohl rückgebunden und behält beispielsweise auch schützenswerte Minderheitspositionen im Blick. Die direkte Demokratie ist unverzichtbarer Standard, so lange die Zahl der Bürger überschaubar ist. Man wählt mit diesem Verfahren auch gern Klassensprecher und Vereinsvorsitzende.

In demokratischen Rätesystemen, die bisher nur selten ausprobiert werden konnten, gab es stets Probleme mit einem mehr oder weniger imperativen oder gewissensbasierten Mandat auf dem Weg durch die Räte und der Entscheidung darüber, welche Mehrheit entscheidend sein soll.

Das parlamentarische Demokratiessystem hat sich, was Staaten und ihre regionalen Untergliederungen betrifft, bewährt und wird ständig weiterentwickelt.

Gewählte Volksvertreter bilden ein Parlament auf Zeit. Der Bürger greift nur bei den Wahlen ein, und bringt seine vordiskutierten Erfahrungen mit den Volksvertretern und politischen Herausforderungen auf den Punkt. Politische Debatten werden also nicht nur ins Parlament verlagert, die allgemeine Auseinandersetzung behält ihre Priorität. Der Mandatsträger ist nicht mächtig.

Die Parteien bieten nun ein in Programme verlängertes und konkretisiertes Welt- und Menschenbild den potentiellen Wählern an. Gleichzeitig nehmen sie im Idealfall an politischen Diskursen zu priorisierten Fragestellungen teil, die dann ins Konzept passen, oder eine Erweiterung oder Umgestaltung des Programms erfordern. Politische Parteien haben also einen Markenkern, an dem man sie auch über lange Zeit wiedererkennen kann und folgen dennoch irgendwie dem Zeitgeist.

Bisweilen fällt es ihnen schwer, ihren Markenkern hochzuhalten, wenn damit parlamentarische Mehrheiten schwinden. Sie sind dann geneigt, sich mit argumentativer Spitzfindigkeit als konservativ und gleichzeitig flexibel zu inszenieren. Der Bürger folgt dem oft nicht so gern, wenn es als Rechtfertigung ankommt.

Die Fortschritte in der Wissenschaft rund um die Demoskopie macht den Parteien allerdings ebenfalls zu schaffen. Die Demoskopie spiegelt, kulminiert in der beliebten Sonntagsfrage – „Wenn Sonntag gewählt würde … “ -, den Willen der vielen Einzelnen (volonté de tous) in die öffentliche Auseinandersetzung und zeigt den Parteien auf, wie sie – auch abseits des eigenen Profils – zu Mehrheiten kommen oder doch zumindest Verluste vermeiden können. Die parlamentarische Mehrheit ist ein bevorzugtes Ziel zur Politikgestaltung aller Parteien. Sie verstricken sich in Kämpfen um Anteile und verlieren den Gemeinwillen (volonté générale) dabei nicht selten aus dem Blick. Bisweilen büßen die Parteien dabei ihren Wiedererkennungswert bis zur Existenzkrise ein.

In solchen Situationen erinnern sie sich gern daran, was der Wähler eigentlich will und neigen dazu, mit der überlegenen Demoskopie zu konkurrieren und das Volk zu befragen. Sie offenbaren also eine fehlende Volksnähe und zeigen, dass ihre politische Diskurse nur noch in Schonräumen ablaufen. Eine Krise des parlamentarischen Systems ist offen sichtlich. Die Bürgerverdrossenheit der Parteien deuten sie um in eine Politikverdrossenheit der Bürger und planen eine Inszenierung und Instrumentalisierung der Bürgernähe. Volksbefragungen sind neuerdings angesagt, vielleicht auch deshalb, weil allein populistisch ausgerichtete neue Parteien mit dem Thema Volksbefragung punkten. Dabei sind Volksbefragungen in der parlamentarischen Demokratie systemfremd, denn der Bürger hat ja für eine festgelegte Zeit, sein Mandat an Abgeordnete weitergegeben, die ja eigentlich wissen müssen, was ihre Wähler wollen. Bürgerentscheide in parlamentarischen Demokratien sind meistens ein Eingeständnis der Hilflosigkeit und werden dann zur Instrumentalisierung des Wählers und zur Simulation einer Bürgernähe eingesetzt oder gar zur Erziehung des Bürgers zu einer Partei hin. Nicht selten sind Volksbefragung aber nur ein Fuß in der Tür für ansonsten machtlose Sonderlinge, wie das Brexitverfahren zeigt.

Die jetzt diskutierte „konsultative Bürgerbefragung“ – vorwiegend in der SPD in Berlin – wäre die Spitze der Bürgerfeindlichkeit, weil man die Bedeutungslosigkeit direkt mitliefern würde. Sie ist dann eben nur konsultativ, also ein unverbindlicher Ratschlag. Sie würde zudem viel Geld kosten, während Demoskopen mit einem Bruchteil der Kosten viel schneller zum gleichen Ergebnis kommen würden. Offenbar ist dabei auch das Ergebnis für die Parteien sehr viel interessante, als das Zustandekommen, sonst wären Gespräche mit Bürgern im Parteialltag das Mittel der Wahl und nicht das Schielen nach der Zahl. 

Wen zu wählen ich geneigt bin

Wohl seit über 50. Jahren steht auf der Todo-Liste aller politischen Parteien eine Steuerreform mit einem deutlich gerechten Ergebnis. Insbesondere reiche Menschen werden ohne akzeptablen Grund reicher und andere ärmer. Zweifel daran bestehen nicht.
Wenn nun Parteien gewählt werden wollen und zu diesem Zweck eine Steuerreform ankündigen, dann glaube ich kein Wort, denn schließlich waren alle bisherigen Ankündigungen erfolglos. Dafür kann auch kein mieser Koalitionspartner oder eine Partei verantwortlich gemacht werden, in der ab heute angeblich alles besser sein soll.
Ich würde eine Partei also nicht auf der Basis von Versprechungen wertschätzen, sondern erst nach einer wirksamen Steuerreform.
Rund um solche Grundmarken demokratischer Politik wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Wohlstand, Zuverlässigkeit und Sicherheit, gibt es noch viele andere Themen, zu denen das Gleiche zu sagen wäre.
Zur Wahl stehen für mich also nur Parteien, wenn sie einmal etwas bewegt haben werden und zur Not solche Parteien, die noch nie in einer Regierungsverantwortung waren und zumindest über halbwegs biophile Konzepte verfügen. Zwischenzeitlich wende ich mich gern Parteien zu, die das politische Kabarett in die Parlamente tragen. Sie stärken die allgemeine politische Sensibilität grundlegend, auch wenn andere nichts liefern.

Zur Unsterblichkeit der politischen Parteien

An so einer Partei hängen Heimatgefühle und Herzblut, manchmal sogar Familientraditionen. Es ist für den Einzelnen kaum auszudenken, dass gerade seine Partei zwecklos geworden ist.

Dabei leben Parteien so, dass sie zunächst einem drängenden Anliegen in der Gesellschaft folgen und damit ihren Zuspruch erfahren. Nun gibt es Anliegen, bei denen es schon eine Weile dauert, bis man sie zum besten gewendet hat. Für diese Zeit beansprucht so eine Partei dann auch den Zuspruch. Danach gäbe es eigentlich keinen besonderen Grund, eine Partei fortzuführen, zumal ihr mit der Erreichung des Ziels auch der Zuspruch abhanden kommt.

Es gibt mehrere Lösungen für dieses Problem, obwohl man vernünftigerweise raten würde, die Partei aufzulösen. Irgendwann bei Bedarf könnte man ja eine neue gründen. Beliebter sind aber andere Lösungen. Man kann so tun, als sei das Ziel noch nicht oder unzureichend erreicht oder man müsse jetzt das erreichte Ziel noch irgendwie für die Dauer festigen. Am beliebtesten ist es aber, der Partei ihren Zweck ganz wegzunehmen und sie zur überdauernden Institution zu erklären, die ihren Zweck also in der eigenen Existenz hat. So eine Partei hat von der Konstruktion her einen Ewigkeitswert, wie ihn auch Religionsgemeinschaften beanspruchen. Man sagt dann parteiintern gern, dass die gesellschaftlichen Errungenschaften ihre Ursachen und ihre Zukunft ausschließlich in dieser Partei haben. Die Partei bildet übermäßig irgendwelche Symbole aus, die sie unverwechselbar machen und kümmern sich mit ihrem spezifischen Geist um nahezu alle gesellschaftlichen Aufgaben. Solche Parteien sind dann auch die  Erfinder der Volkspartei, die intern eine Plattform anbieten, Interessengegensätze ausgleicht und im Ergebnis niemanden davon ausschließt, genau diese Partei zu wählen. Die Wechselfälle des Lebens und der Politik spülen immer neue Themen in die Partei, die stets kompetent auftritt.

Das Problem ist allerdings, dass Parteien auf den Weg in die Unsterblichkeit des Institutionellen abgleiten und die Bewältigung konkreter Politiklagen gern auf die lange Bank der Willensbildung verschieben.

Der Bürger will allerdings keinen politischen Fossilzoo, sondern schnelles und wirksames Handeln mit einem transparenten und guten Preis-Leistungs-Verhältnis.

Die Verdinglichung der Parteien zu Marken führt langsam aber direkt zur Ablehnung durch den Bürger, insbesondere wenn er merkt, dass die Verfassungsversprechen Wohlstand, Gesundheit, Gerechtigkeit und Kalkulierbarkeit in der herrschenden politischen Kultur nur noch rhetorisch vorkommen.

Die Parteienlandschaft wird sich wohl oder übel auf Parteien einlassen müssen, die in alter Tradition etwas ganz bestimmtes erreichen wollen, aber auch nicht mehr. Sie sollten ihre Zeit bekommen.

Die unbeweglichen Volksparteien werden an Bedeutung verlieren. Wenn sie es erkennen, lösen sie sich vernünftigerweise sofort auf. Sie wären ein gutes Beispiel für  Verbände, wie zum Beispiel im Sport, die, weil sie nicht sterben wollen, die Fehlentwicklungen ihres Managements bis hin zur Korruption bis in alle Zukunft verschleppen.

Die SPD, als überdauernde Partei der Arbeiterklasse, überzeugt beispielsweise den Arbeiter, sofern es ihn überhaupt noch gibt, nicht mehr wirklich. Das Geschäftsmodell ist aus der Zeit gefallen. Es ist höchste Zeit, sich ohne Wehmut als Partei aufzugeben, bevor der Wähler ganz undankbar das Kommando für andere freigibt, ohne dass das ein Ende der Politik bedeutet. Die SPD wäre ein Vorbild für einige andere Parteien.

Der immerwährende Aufstieg und den kurzen tödlichen Kollaps der Democrazia Cristiana 1993 in Italien zeigt beispielhaft, wie es im Extremfall gehen kann.

Wo kommen die Wähler her?

Die sozialen Milieus, in denen herkömmliche Parteien ihre Wähler rekrutieren, lösen sich auf. Das kann man nicht bedauern, wenn man die Entwicklung der Gesellschaft gut findet.

Wenn solche Parteien sich neu erfinden, ist das eine grundlegende Anpassungsleistung an den Wandel der Gesellschaft und eigentlich eine Neugründung mit Mitnahmeeffekt. Man nimmt die Wählerstimmen der Traditionalisten die der Partei treu gefolgt waren noch für eine Weile mit. Die SED hat das nach der Wiedervereinigung so gemacht. Deren alten Kader sind mittlerweile dahingeschmolzen und neuerdings sogar zu rechtssortierten Parteien übergelaufen, weil sie dort geachtet werden, wenn sie die alte doktrinäre Parteilichkeit behalten.

Vor allem die alte SPD und dann bald auch die CDU kommen an der Neugründung wohl nicht vorbei. Allerdings werden Parteien glaubwürdiger in Erscheinung treten, weil sie ohne den Mitnahmeeffekt auskommen. Sie sind stets das Original. Sie nehmen keine alten Parteikader mit, keine Infrastruktur zur Parteiverwaltung und auch keine Parteiressourcen, nicht einmal bekannte, vertrauenswürdige Gesichter. Sie entwickeln ihre Themen und deren politische Bewältigung aus einem politischen Selbstverständnis und erwarten dafür eine Zustimmung. Bisher hatten solche Parteien es schwer, wie zum Beispiel die Grünen oder die Piraten. Die Auflösung der sozialen Parteimilieus wird es ihnen zukünftig aber leichter machen und die Parteienlandschaft blühen lassen. Wer sich im sichern Besitz der richtigen Politik wähnt, wird sich darauf nicht mehr ausruhen können. Die Bürgerverdrossenheit der Parteien, die sich  mit deren Institutionalisierung irgendwann einstellt, wird der Bürger verantwortungsvoll mit einer geänderten Wahlentscheidung quittieren.

… und du bist raus!

Wenn Wahlen anstehen, dann geht es um die öffentliche Meinung und um künftige Politik.

Die öffentlich rechtlichen Fernsehanstalten haben zu diesem Anlass die Elefantenrunde erfunden: Die Meinungsführer der jeweils zur Wahl anstehenden und voraussichtlich chancenreichen Parteien erhalten eine moderierte Möglichkeit, in der Auseinandersetzung ihre Positionen vorzutragen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass solche Runden vor der Wahl und auch unmittelbar danach erhellende Momente für den Wähler hervorbringen und ihm helfen, seine Wahlentscheidung zu fundieren. Zur Wahl gehen ist wichtig, eine fundierte Wahlentscheidung zu treffen ist allerdings noch wichtiger. Dem Format Elefantenrunde kommt deshalb im öffentlich-rechtliche Rundfunk eine hervorragende Bedeutung zu.

Nun ist das Spektrum der antretenden Parteien groß. Es sind immer auch welche dabei, die randständige Themen oder fragwürdige Ideologien vertreten. Das hält der demokratische Rechtsstaat aus. Folglich ist der Disput der Parteienvertreter auch dann sinnvoll, wenn sie sich nichts, oder aber auch nichts Gutes zu sagen haben. Dann ist zumindest der Wähler auch darüber im Bilde.

Die Fernsehanstalten bestimmen ihr Format und die Parteien entsenden ihre Vertreter. Das kann ja auch nicht anders sein.

Doch in diesem Jahr ist alles anders. In Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg verweigern die Parteien SPD und Grüne die Teilnahme, wenn die AfD ebenfalls dabei ist. Jetzt hat der zuständige SWR sein Format schnell umgestrickt und beabsichtigt nun, die AfD draußen vor zu lassen.

Dass die Arroganz der Macht, die ja auch nur vom Volk geliehen ist, leichtfertig die Widersacher aus der rassistischen Schmuddelecke ausgrenzt, ist ein Fehler, der diese Widersacher wahrscheinlich sogar aufwertet. Ein schlauer Satz in der Elefantenrunde wäre die bessere Variante gewesen.
Der Durchgriff auf den öffentlich rechtlichen Rundfunk durch Verweigerung mit einem Seitenblick auf die Machtverhältnisse im Rundfunkrat ist allerdings eine kleine Machtmusik zur Instrumentalisierung der Pressefreiheit. Damit gibt es auch einen Beleg für die fehlende Regierungsferne des SWR. Es ist zwar richtig, dass der SWR alles zu tun hat, um alle Parteienvertreter in das Studio zu holen, aber nicht mit dem Ergebnis, dass er nun als Regierungsfunk agiert und die Regeln einer freien Presse beiseite legt.

Ich bin erst einmal froh, dass ich nicht in den besagten Bundesländern wohne: Meine Wahlmöglichkeiten wären dort arg begrenzt.

Ich wünsche mir, dass die AfD immer dabei ist, aber niemals Regierungsverantwortung gewinnt. Ich wünsche mir einen weitestgehend unabhängigen Rundfunk. Und ich wähle nur Parteien, die nicht Opfer ihrer eigenen Spin-Doctors sind. — Das sind doch diese Meinungstechnokraten, die Tricks für den Machterhalt höher bewerten als das, was eine Partei wollen mag.

Vernünftig nicht wählen

Nach den aktuellen Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen ergibt sich eine Wahlbeteiligung von 50% und weniger.
Das wird ziemlich einstimmig als sehr bedenklich eingestuft.
Wenn also eine Partei die absolute Mehrheit von 50% plus einer Wählerstimme erreicht, hat sie bei dieser Wahlbeteiligung lediglich 25% der Wahlberechtigten auf ihre Seite gezogen. Dabei sind noch nicht einmal die Nichtwahlberechtigten, also alle Kinder und viele Mitbürger ohne deutschen Pass mitgerechnet. Es wird also auch für die „siegreichen“ Parteien schwer, den Wählerwillen im Wahlergebnis wieder zu finden, wenn man das Parlament dominiert, aber nur jeden fünften Menschen hinter sich weiß.
Da haben wir das allgemeine, freie und gleiche Wahlrecht über Jahrhunderte erstritten und sogar in den neuen Bundesländern seit 1989 zur Anwendung gebracht. Und nun ist der Bürger anscheinend undankbar und macht nicht mehr mit!?
Es gibt nun Anregungen, den Wähler mit Geschenken zur Wahl zu locken [Tagesspiegel] oder gar nach belgischem Vorbild die Wahlpflicht einzuführen.

Das Nichtwählen kann jedoch ebenso eine vernünftige Wahlentscheidung sein, wie das Wählen. Beides muss aber nicht unbedingt vernünftig sein. Diese Freiheit (wählen zu können und auch unvernünftig sein zu können) ist Menschenrecht. Eine Wahlpflicht würde also dem Wähler eine Entscheidungsmöglichkeit rauben und ist menschenrechtlich nicht akzeptabel. Geschenke würden in spätkapitalistischer Manier neue merkwürdige Motive einführen, sich zur Wahlurne zu begeben, ohne wenigstens der bedachten Wahlentscheidung den Weg zu ebnen.
Der Weg zur hohen Wahlbeteiligung ist im Grund ganz einfach und auch wenig spektakulär. Er setzt an bei einer Erziehung und Bildung zur Teilhabe und setzt sich dann schon automatisch fort in einer Politik, die sich nicht spitzfindig rechtfertigt und damit auf jegliche Erneuerungen verzichtet und dem Bürger stattdessen zuverlässig offenbart, dass es in Parteien und Parlamenten einzig und allein um das Wohl des Volkes geht.
Es ist schon heute so, dass es der Bürger in Wahlen honoriert, wenn ein Politiker sich authentisch von den aufgewärmten Instantpolitpositionen entfernt oder das real existierende und saturierte System des Regierens und Verwaltens in Frage stellt. Neue Parteien erhalten deshalb gern die Zustimmung des unverstandenen bis verzweifelten Bürgers als Vorschuss.