Über die politische Bollwerkstategie im Jahr 2020

Bollwerk (Symbolbild)

Die eher etablierten Parteien in Deutschland haben in den letzten Jahren alte Hilfslinien zum unverrückbaren Bollwerk ausgebaut und ideologisch aufgeladen. Sie nennen das Hufeisentheorie oder Äquidistanzprinzip, um der Sache eine nur scheinbar wissenschaftliche Weihe zu geben. Hinter dem Bollwerk liegen dann die Parteien, die man partout aus der politischen Willensbildung ausklammern will, weil sie das Selbstverständnis im Binnenbereich angreifen und Ziele verfolgen, mit denen man sich so wenig anfreunden kann, dass sie als staatsgefährdend aussortiert werden. Die geheimdienstliche Beobachtung schafft immer wieder Material herbei, die Ausgrenzung zu rechtfertigen. Das Material erscheint beliebig und hält meistens einer Prüfung nicht stand.

In der praktischen Politik hat das Folgen. Es prägt nicht nur die politische Arbeit innerhalb und außerhalb solcher Grenze höchst unterschiedlich, es trifft auch die verfassungsrechtlich verankerten Verfahrensweisen in Parlamenten. In den Thüringer Tagen des Februar 2020 gab es für CDU und FDP die Parteivorgabe, dass rechtsaußerhalb die AfD und linksaußerhalb die LINKE ohne wenn und aber ausgeschlossen waren, sich – wie auch immer – zu einer Kooperation zu verabreden. Der Wähler hatte aber das Parlament so gewählt, dass eine Regierungsbildung unter Beibehaltung der Ausgrenzungsdoktrin nicht möglich sein würde. Dabei hatte das Wahlvolk den bisherigen Regierungschef und seine Partei, die LINKE, mit einem beachtlichen Zuwachs an Wählerstimmen ausgestattet und sich in Umfragen mit großer Zufriedenheit über seine Arbeit geäußert. Unter dem Schwert der Ausgrenzungsdoktrin waren die Akteuere von CDU und FDP also handlungsunfähig für die Entscheidungsfindung im Parlament, ohne dass das allerdings öffentlich auffallen durfte. Man argumentierte gewagt und gewagter mit dem Tenor, dass die anderen Schuld sind, um wenigstens in der Berichterstattung noch vorzukommen. Und weil so eine Fraktion einer Partei eine heterogene Ansammlung ist, gab es auch gedankliche Vorstöße, die Doktrin in irgendeine Richtung zu kippen. Was da so gedacht wurde, das ist bei der nur 5-köpfigen Fraktion der FDP noch unerheblich. Bei der CDU weiß man aber, dass sich in den östlichen Bundesländern ein Flügel kultiviert hat, der eine deutliche Affinität zu Vereinigungen hat, die eher dem ausgegrenzten rechten Spektrum zuzuordnen sind. In der Werte-Union werden beispielsweise Werte vertreten, die die eigentlichen programmatischen Werte der CDU mit rechtem Gedankengut neu interpretieren und ausweiten. Es war also schließlich ein bloßes Symbol, Handlungsfähigkeit unter doktrinären Vorgaben zu demonstrieren, und einen FDP-Mann zum Regierungschef zu wählen, indem die AfD der FDP und der dahinter lauernden CDU fintenreich ihre Stimme für eine Mehrheit gab. Dass das keinen Bestand haben würde, war vielen Akteuren von CDU, FDP und eventuell AfD aber erst nach heftigem öffentlichem Widerstand deutlich.

Bei alledem fällt auf, dass das Reden der CDU von der Mitte die Bedeutung hat, sich selbst in der Mitte des Spinnennetzes zu verorten, gleichgültig, wo man tatsächlich ist.Die Mitte‟ steht wie eine Reviermarkierung sogar vorn auf dem gern präsentierten CDU-eigenen Rednerpult. Man ist damit gleichermaßen Herr über die Bestimmung, was peripher oder gar hinter dem Bollwerk der Doktrin draußen ist. Die Mitte ist dabei abgeleitet vom Mittelwert in der Gaußschen Normalverteilung. Statistiker wissen, dass dort am ehesten die Stimmen für Wahlgewinner zusammenkommen. Das hat sich herumgesprochen. Man ist nach diesem Muster stets dick in der Mitte, wenn man rechts und links potentielle Verbündete im Innenbereichen hinzurechnet, so wie man es gerade braucht. Allerdings wird – wie im gegebenen Fall – das Reservoir knapp, wenn die ausgegrenzten – warum auch immer – den starken Zuspruch des Wählers finden.

Es wird Zeit darüber nachzudenken, und das gilt nicht nur für die Welt der Politik, was einem bei einem doktrinären Verfahren so alles verloren geht außer der Mehrheit. Offenbar ist die Welt ressourcenreicher und vielfältiger, wenn wir über unsere selbstgewählten Bollwerkrand hinaus blicken.

Es ist beileibe nicht so, dass der selbstgewählte und errechnete Durchschnittsbürger das Maß aller Dinge ist. Deshalb habe ich einmal das eigentümliche Verhältnis von Durchschnittsbürger und Außenseiter in der Abfolge von 16 Thesen prinzipiell ausgeleuchtet und also die Bewertung verabscheuungswürdiger Außenseiter und ihrer Gruppierungen erst einmal weggelassen. Es ist – wenn man den Thesen folgt – einfach, damit politisch motivierte Ausgrenzung in einem anderen Licht erscheinen zu lassen. Wir sollten das unbedingt tun!

Vom Durchschnittsbürger und vom Außenseiter

1 • Den Durchschnittsbürger gibt es nicht wirklich, weil er eine statistische Größe ist.
2 • Der Durchschnittsbürger ist jedoch gerade deshalb wichtig. Denn er verhält sich genau so, wie man es am ehesten von einem (x-beliebigen) Menschen erwarten kann. Insofern kann gerade er als vollkommen normal eingestuft werden.
3 • Wenn die Menschen in ihrem Verhalten, Denken und Fühlen dem Durchschnittsbürger nahekommen, dann können sie problemlos leben, weil sie sich fast naht- und reibungslos in die herrschenden Erwartungen einfügen und deshalb als normal gelten.
4 • Der Durchschnittsbürger ist (statistisch) so festgelegt, dass jeder Bürger – wenn auch nur ein wenig – durch sein Verhalten, Denken und Fühlen den Durchschnittsbürger und damit die Richt-Schnur für problemlos-angepasstes Leben mitbestimmt, unabhängig
davon, wie er sich tatsächlich verhält.
5 • Erhebt man den Durchschnittsbürger zum Ideal, dann ergeben sich jedoch Schwierigkeiten: problemloses Sicheinfügen geht mit dem Verzicht auf Mitbestimmung und dem Verzicht auf Zielsetzung einher, denn als Durchschnittsbürger bestimmt man ja (scheinbar) immer nur das mit, was man immer schon vorfindet. Das Ziel des Durchschnittsbürgers wird somit die Gegenwart als status quo.
6 • Die Frage nach dem wünschenswerten Durchschnittsbürger (der Zukunft) kann nur einer Abweichung vom Ideal des (statistischen) Durchschnittsbürgers den Weg ebnen.
7 • Der Wille des Durchschnittsbürgers (volonté de tous) repräsentiert – wenngleich er oft bestimmend ist – offenbar nicht den Gemeinwillen (volonté général).
8 • Das Gegenstück zum Durchschnittsbürger ist der Aussenseiter. Auch ihn gibt es nicht und auch er ist wichtig, denn er verhält sich genau so, wie man es von keinem anderen Menschen erwarten kann.
9 • Der Außenseiter entgeht der gleichmachenden Kraft der statistisch erfassten Norm des Durchschnittsbürgers und erhält sich die Möglichkeit der Mitbestimmung und Zielsetzung durch seine Freiheit zum Anderssein. Er ist ein Jemand und nicht ein Ergebnis und Abklatsch einer statistischen Ermittlung.
10 • Doch der Außenseiter hat mit Schwierigkeiten zu rechnen: er hat – verständlicherweise – die dominierende Macht des Durchschnittsbürgers (volonté de tous) gegen sich; der Außenseiter gefährdet das „problemlose“ Leben des Durchschnittsbürgers.
11 • Ihre Probleme müssen der Durchschnittsbürger und der Außenseiter selbst lösen, auch die, die sie sich gegenseitig verursachen. Dennoch gilt:
* Der Durchschnittsbürger ist auf den Außenseiter angewiesen, wenn er sich von seinem statistischen Phantom befreien will.
* Der Außenseiter ist auf den Durchschnittsbürger angewiesen, wenn er in der Wirklichkeit (die in erster Linie die des Durchschnittsbürgers bleiben wird) (über-) leben will.
12 • Durchschnittsbürger und Außenseiter sind einander nicht gleichgültig, sie sind gleich-gültig.
13 • Der Durchschnittsbürger kann dem Außenseiter zu einem Vorbild werden, das sich durch Verhaltenssicherheit und Kalkulierbarkeit auszeichnet.
14 • Der Außenseiter kann dem Durchschnittsbürger zu einem Vorbild werden, das sich durch Risikofreude und soziale Kreativität auszeichnet.
15 • Mehr noch: Der Außenseiter kann – errechnet man den Durchschnittsbürger seiner Sub-Kultur – sogar mit diesem identisch sein und damit sich selbst und anderen gegenüber anders in Erscheinung treten, als er tatsächlich ist. Er tritt dann als ein Außenseiter auf und bleibt doch selbst der Durchschnittsbürger, dem er entgegentritt.
16 • Durchschnittsbürger und Außenseiter müssen ihre Leitidee relativierbar halten, wenn sie der destruktiven Macht der selbstgemachten Wahrheit entgehen wollen.

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