Integration in schwierigem Gelände …

Die Türken haben mit dem Ja nicht für die Verfassungsreform gestimmt und – wie es so aussieht – auch nicht für Erdoğan, sondern gegen Deutschland, das sie systematisch vernachlässigt.

Man möchte differenzieren und wird dann doch wieder derart grobschlächtig pauschal.
Wie ist das denn nun mit der Integration im allgemeinen und mit den Türken im besonderen?


In Deutschland gibt es ein gefälliges Schweigen über die Integration, so als habe man sich bereits vor der Ankunft fremder Menschen einstimmig darauf geeinigt, was das sein soll. Wenn die Fremden nicht mehr als solche zu hören und zu sehen sind -so sagt es gern der befragte Bürger – dann ist die Integration wohl gelungen. Aber dem liegt die erzkonservative Phantasie zugrunde, die Integration sei allein eine engagierte Anpassungsleistung des Fremden. Der Deutsche sagt nur, wie er es denn gern hätte. Wenn du so bleiben willst, wie du bist, dann kannst du das als eine gute Sache deuten. Aber wie schrecklich würde es ausgehen, wenn dein Nachbar sich von dir gar nicht mehr unterscheidet? Ihr würdet nicht einmal mehr miteinander reden brauchen, sondern würdet zum selben Bier Jahr für Jahr die selben alten Lieder gemeinsam singen. Eigentlich sind wir partiell ja auch schon viel weiter: Im direkten Kontakt mit dem Fremden erfahren beide Seiten abweichende Sichten auf die Welt, neue Möglichkeiten des Handelns und viel Respekt. Und die Vielfalt wird als Gewinn gedeutet. Es wäre ein Verlust, wenn der Fremde nur als Schützenkönig zeigen kann, wie verdammt gut er integriert ist.


Bei den Türken ist das nicht anders. Es gibt aber Besonderheiten, die dem zugereisten Türken schnell vermitteln, er würde in einer exterritorialen Provinz seines Herkunftslandes leben. Es gibt, über die Jahre gewachsen, größere Familien und Verwandtschaftsbeziehungen in denen sich der Kontakt nach außen auf wenige Personen delegieren lässt. Es gibt Infrastrukturen, die oft flächendeckend den Konsum, die Religionsausübung, die Politik, die Kultur und die Folklore ohne einen erkennbaren Integrationsanspruch und in türkischer Sprache ermöglichen. Die Elemente dieser Infrastruktur holen den Glanz des großtürkischen Reichs zurück und folgen damit auch der für Weltbürger höchst gewöhnungsbedürftigen Überbetonung alles Türkischen. Das hat eine Tradition, die Atatürk über die Zeit sogar mit Erdoğan verbindet. In einem Fahnenmeer verzehrt sich eine großsolidarische Türkischtümelei, die bereits vor Jahren von Erdoğan in seinen exterritorialen Wahlkampftreden bedient wurde: Alle sollen fleißig Anpassungen im fremden Land leisten, und dabei nie vergessen, dass sie das alles nur für die Türkei tun. Erdoğans Erwartungen an die Gesellschaft und an den Einzelnen Fällen zusammen. Eine Diversität ist nicht vorgesehen. So kommod lässt sich Leben, wenn man sich als Fremder so erzkonservativ einrichtet, wie es dem beliebtesten deutschen Integrationsverständnis entspricht, obwohl man es sich ja eigentlich als Fremder nicht leisten kann. Die weitgehende Abkapselung türkischer Lebenswelten macht das aber möglich. Es ist also ein Missverständnis, wenn auf diese Art und Weise die Fremden zu Einheimischen der exterritorialen Extraklasse werden. Größere Institutionen in der türkischen Community tun aber alles dafür, die Idee der türkischen Provinz in Deutschland zu füttern und haben Zuspruch damit. Das alles wird über die grenzenlos zusammengewachsene Medienwelt zusätzlich unterstützt. Kein Fremder muss deutsche Nachrichten hören, sehen oder lesen, wenn er Türke ist. In Deutschland wird türkischer Wahlkampf betrieben und niemandem fällt auf, dass die Souveränität eines Landes an dessen Grenzen endet. Es wird in einem stark laizistisch ausgerichteten Land, die in der Türkei dominante Religion über eine spezifische türkische Staatsbehörde so ausgebaut, dass den Menschen in der Auslandsprovinz jederzeit gesagt werden kann, was für sie gut sein soll und er wird sogar bespitzelt.


Im Alltag und an der Nahtstelle zum deutschen Leben gibt es allerdings zahlreiche Verwerfungen, die sich mit den Mitteln der türkischen Community kaum verstehen, geschweige denn bewältigen lassen. Wenn es um die unvermeidlichen Kontakte zu deutschen Institutionen geht, dann muss der Enkel oft dem Arzt die Symptome der Großmutter schildern, bevölkern Großfamilien Krankenhauszimmer, fordern zahlreiche türkische Institutionen im Schulterschluss mit ihrem Klientel, eine Möbelkette zu boykottieren, weil sie Fußmatten mit dem Symbol einer Moschee anbietet. Es werden auf Wunsch türkischer Institutionen mit dem Ziel der Integration Erwachsenenbildungsveranstaltungen mit deutschen Integrationsmitteln gefördert, in denen schließlich bei aller propagierte Offenheit Türken unter sich sind. Und bleiben. List man allein die Webseiten aus den in Deutschland tätigen türkischen Communitys, liest man kaum etwas auf Deutsch und die Phalanx der Vorsitzenden ist wichtiger als der Inhalt. Alle Ziele sind beanstandungslos, Belege über die Verwirklichung sind dürftig. Dazu gibt es unzählige weitere Beispiele.


Die Toleranz, die Freiheitsrechte nach sich ziehen, schwappt bisweilen in die Gleichgültigkeit, in der solch fragwürdige Entwicklungen von und in Konkurrenzgesellschaften gern übersehen werden. Man guckt hin und fragt erst, wenn es unübersehbar ist. Es wäre hilfreich, so etwas zeitiger zum Thema zu machen.


Nun ist es so, dass es sehr viele Menschen aus der Türkei gibt, die hier so heimisch geworden sind, dass sie sich vorrangig und autonom außerhalb türkischer Lebenswelten orientieren. Selbst wenn sich an türkischen Operettenabstimmungen teilnehmen können, entscheiden sie sich gern mit demokratischen Anspruch dagegen. Sie sind unter den ca. 50% derer zu finden, die – aus welchen anderen Gründen auch immer – nicht gewählt haben.
Das selbst gemachte Problem mit der Volksabstimmung in der Türkei auf der deutschen Seite besteht wohl darin, dass es überhaupt zwei konkurrierende Integrationswege bei beiderseits defizitärem Integrationsverständnis gibt. In solchen Situationen der Konkurrenz neigt man dazu, die Konfliktlinien zum eigenen Wohl zu verschieben und einen Schuldigen zu suchen. Der Fremde war immer schon Schuld und für den Fremden selbst bleibt nur der Einheimische, der ihn ständig zurück weist.


Es ist klar, dass man dann auch einmal gern eine totalitäre Verfassungsstruktur in der Türkei wählt, um die als abweisend eingeschätzten Deutschen zu treffen. Man nutzt mangels Alternativen ein falsches Objekt und eine fragwürdige Hypothese für ein richtiges Ziel.


Im Alltag versteht das niemand mehr … Es hilft also nur noch das Reden und ich bin sicher, dass sich immer ein guter Gesprächspartner findet.

Siehe auch

 

Liebe türkischen Mitbürger …

Die Freiheitsrechte gelten universell. Daran gibt es nichts zu rütteln. Die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit gewährleisten, dass die Freiheitsrechte angewandt werden können. Es hilft nicht, viele Argumente zusammen, warum dieses oder jenes demokratisch sein soll. Denn die Demokratie ist nur dadurch dauerhaft, dass man Argumente sucht, warum dieses und jenes nicht demokratisch ist, damit man es verbessern kann. Demokratie ist also nie im sicheren Besitz. Sie geht verloren, wenn man meint, sie im sicheren Besitz zu haben.
Die Türkische Regierung hat mit weitreichenden Folgen demokratische und rechtsstaatliche Strukturen abgeschafft, weil sie hinderlich sind, eine Präsidialsystem zu etablieren, das von oben herab den Leuten sagt, was für sie gut ist. Die Geschichte ist voll von solchen Versuchen, die stets mit dem Leid und der Armut gleichgeschaltetet Menschen zu Ende gegangen sind, obwohl sie sich selbst als menschenfreundlich inszenieren.
Das in der Türkei vorgesehen Referendum ist der letzte Schritt, einen legitimierten Überbau in Politik und Verwaltung für eine bereits weitgehend entdemokratisierte Gesellschaft zu schaffen. Der Ausnahmezustand der letzten Jahre wird damit als Regel installiert. Die angeeignete Machtfülle des Präsidenten bleibt damit unverrückbar. Sie setzt auf regierungsabhängige Gerichte, eine unwirksame Opposition und eine gleichgeschaltete Presse. Eigenwillige Richter, Oppositionspolitiker und Journalisten sind in der Haft ausgeschaltet.

Wenn sie also abstimmen, stimmen Sie für Vielfalt und Freiheit, also mit Nein | Hayır.
Sie sollten wissen, dass sich mit der Abstimmung für das regierungsseits vorgegeben Ja | Evet zwangsläufig gegen eine Mitgliedschaft in der EU und für eine Isolation von der Gemeinschaft demokratischer Staaten stimmen. Eine nationale Selbstbeweihräucherung mag zwar im Moment für ein Gefühl der Solidaritär und Unverletzbarkeit Beiträgen, überdauern und zukunftsträchtig ist das aber nicht.
Es wäre auch für mich ein Verlust, wenn es so kommen würde.

Neopatriotismus

Der aktuell beliebte blinde Patriotismus nach Art der Türkei bringt eine endlose Vervielfältigung eines rigide und dümmlich konstruierten Begründungszusammenhangs hervor, nach dem „die Deutschen“ „die Türken“ beleidigen und so weiter. Ich weigere mich mittlerweile, zu diesem Thema zuzuhören oder zu lesen. Damit jeder weiß, was ich meine, habe ich eine Kostprobe angefügt. Die Wiederholung aus allen Rohren ohne Rücksicht auf alle Gegenreden sorgt ja nicht dafür, dass die Grundaussage richtiger oder besser wird. Sie sorgen lediglich dafür, dass mir die Protagonisten von Tag zu Tag suspekter werden. Eine Diskursbereitschaft kann ich in dieser Gemeinschaft der vorgeschobenen Klone nicht erkennen.

Lassen wir doch einmal alle ausgegrenzten Menschen in der Türkei und anderswo zur Sprache kommen, damit Vielfalt, Schönheit und Ideen wieder blühen können.

Einstweilen stecke ich zum Selbstschutz den einen oder anderen in meine digitale Quarantäne – bis ich Töne der Verständigung höre.

Politische Verhandlungen führen in ihrer Pragmatik stets in neue Sackgassen

Die Europäische Union baut die Türkei zum eigenen Schutz als Schlüsselland für die Beherbergung von Flüchtlingen auf, während an den Grenzen der Europäischen Union, Armut, Elend, Krankheit und Tod auf die Menschen warten, die nicht vor und zurück können.Der Vorschlag der Türkei zur maximalen Kontrolle der Wanderungsbewegungen in der Welt ist auf den ersten Blick vernünftig: Es kommt zunächst und in geordneten Bahnen nur der nach Europa, der wirklich schutzbedürftig ist.Im Detail sieht es aber anders aus!Man darf die nachweisbar Schutzbedürftigen nicht vorläufig in die Türkei zurück schicken, denn die Schutzbedürftigkeit gilt unmittelbar und sofort!
Wie viele Beispiele zeigen, bleiben diejenigen auf der Stecke, die „nur“ ein besseres Leben wollen, weil auch dem hilfsbereiten Europäer diejenigen bereits genug sind, die unmittelbar schutzbedürftig sind. Es wird noch aussichtsloser als bisher, sich als Arbeitsemigrant zu bewerben.
Die Türkei entfernt sich in ihrer Innenpolitik immer weiter vom Rechtsstaat, dass die Europäische Union auf absehbare Zeit eine der Gegenleistungen schuldig bleiben wird. Die Türkei wird bestenfalls zum Schein als Beitrittskandidaten behandelt, lediglich um das Flüchtlingsgeschäft erst einmal abzuwickeln.
Auch die Reisefreiheit der Türken in die Europäische Union ist als Gegenleistung riskant und beschert der Europäischen Union möglicherweise eine neue Wanderungsbewegung. Menschen aus der türkischen Opposition werden verstärkt Asyl in der Europäischen Union suchen und die Türkei des demokratischen Widerspruchs berauben.
Und schließlich: Es ist ein Armutszeugnis, wenn die Hilfebedürftigen an den Hindernissen der Flucht erst die Aufmerksamkeit schaffen, über ihre humane Behandlung nachzudenken.

Gottlos

„Es waren Gottlose“, sagt man gern, wenn andere gewalttätig werden. In diesen Tagen sagt das der türkische Staatspräsident Erdogan nach einem Terrorakt des IS auf türkischem Boden. Offenbar wähnen sich die Täter und die Kritiker gleichermaßen auf der Seite Gottes und haben ihn doch weit hinter sich gelassen. Gott steht nämlich dummerweise immer auf der Seite des anderen und lässt sich nicht einfangen. Es ist also uninteressant, ob jemand meint, Gott auf seiner Seite zu haben. Interessant ist es aber unter der profanen Perspektive, wer etwas mit dem Gütesiegel gottgewollt/gottgeprüft kennzeichnet. Bei ihm ist größte Vorsicht geboten!

Über das V-Wort

Das Leben wäre in diesen Tagen auch für manchen Türken einfacher, wenn er aufnehmen würde, dass der Sprachgebrauch frei ist und beispielsweise das Wort Völkermord wie jedes andere Wort auch zur freien Auswahl steht. Auch in dem Verhältnis von Türken und Armeniern kann und darf also selbstverständlich Völkermord thematisiert werden. Eine Gegenrede ist jederzeit möglich. Möglich ist es aber nicht, für andere verbindlich den Sprachgebrauch über die Deklaration von Tabuwörtern zu regeln.
Das widerspricht grundlegenden Freiheitsrechten und bewirkt eine Selbstisolation im Bad kruder Verschwörungstheorien.

Das Gute an der Sprache ist, dass sie an die Gemeinschaft der Sprechenden gebunden ist. Der Versuch, Vorschriften für den Sprachgebrauch zu machen, wird also unweigerlich scheitern.