In der vorherrschenden Demokratie gilt der Bürger als Souverän. Er sagt letztlich, was zu tun und zu lassen ist. Dem Demokratietheoretiker Rousseau ist bereits im 18. Jahrhundert aufgefallen, dass der einzelne Bürger zwar für die Meinungsbildung wichtig ist, aber nicht über ein Hochrechnungsverfahren die Politik bestimmen sollte. Rousseau unterscheidet deshalb den Willen vieler Einzelner (volonté de tous) vom Gemeinwillen (volonté générale), der schließlich als ausschlaggebend dafür angesehen wird, was politisch verwirklicht werden soll und dann auch nur sehr komplex zustande kommt. Es geht also um weit mehr als das, was einer sagt oder mehrere Menschen sagen. Und erst recht um viel mehr als das, was einer sagt, der behauptet, für das Volk zu sprechen.
Wir haben deshalb nach vielen Experimenten mit der Demokratie herausgearbeitet, dass in Verbindung mit einer zuverlässigen Rechtsstaatlichkeit die Auseinandersetzung mit politischen Positionen noch am ehesten einen Gemeinwillen hervorbringt.
In der direkten Demokratie, in der sich alle Akteure von Angesicht zu Angesicht sehen, geht es ursprünglich um das Palaver, die Debatten im Vorfeld. Die Abstimmung ist also nur der Schluss, also weit mehr als ein individuelles Handheben. Sie ist an das Erfordernis zum Gemeinwohl rückgebunden und behält beispielsweise auch schützenswerte Minderheitspositionen im Blick. Die direkte Demokratie ist unverzichtbarer Standard, so lange die Zahl der Bürger überschaubar ist. Man wählt mit diesem Verfahren auch gern Klassensprecher und Vereinsvorsitzende.
In demokratischen Rätesystemen, die bisher nur selten ausprobiert werden konnten, gab es stets Probleme mit einem mehr oder weniger imperativen oder gewissensbasierten Mandat auf dem Weg durch die Räte und der Entscheidung darüber, welche Mehrheit entscheidend sein soll.
Das parlamentarische Demokratiessystem hat sich, was Staaten und ihre regionalen Untergliederungen betrifft, bewährt und wird ständig weiterentwickelt.
Gewählte Volksvertreter bilden ein Parlament auf Zeit. Der Bürger greift nur bei den Wahlen ein, und bringt seine vordiskutierten Erfahrungen mit den Volksvertretern und politischen Herausforderungen auf den Punkt. Politische Debatten werden also nicht nur ins Parlament verlagert, die allgemeine Auseinandersetzung behält ihre Priorität. Der Mandatsträger ist nicht mächtig.
Die Parteien bieten nun ein in Programme verlängertes und konkretisiertes Welt- und Menschenbild den potentiellen Wählern an. Gleichzeitig nehmen sie im Idealfall an politischen Diskursen zu priorisierten Fragestellungen teil, die dann ins Konzept passen, oder eine Erweiterung oder Umgestaltung des Programms erfordern. Politische Parteien haben also einen Markenkern, an dem man sie auch über lange Zeit wiedererkennen kann und folgen dennoch irgendwie dem Zeitgeist.
Bisweilen fällt es ihnen schwer, ihren Markenkern hochzuhalten, wenn damit parlamentarische Mehrheiten schwinden. Sie sind dann geneigt, sich mit argumentativer Spitzfindigkeit als konservativ und gleichzeitig flexibel zu inszenieren. Der Bürger folgt dem oft nicht so gern, wenn es als Rechtfertigung ankommt.
Die Fortschritte in der Wissenschaft rund um die Demoskopie macht den Parteien allerdings ebenfalls zu schaffen. Die Demoskopie spiegelt, kulminiert in der beliebten Sonntagsfrage – „Wenn Sonntag gewählt würde … “ -, den Willen der vielen Einzelnen (volonté de tous) in die öffentliche Auseinandersetzung und zeigt den Parteien auf, wie sie – auch abseits des eigenen Profils – zu Mehrheiten kommen oder doch zumindest Verluste vermeiden können. Die parlamentarische Mehrheit ist ein bevorzugtes Ziel zur Politikgestaltung aller Parteien. Sie verstricken sich in Kämpfen um Anteile und verlieren den Gemeinwillen (volonté générale) dabei nicht selten aus dem Blick. Bisweilen büßen die Parteien dabei ihren Wiedererkennungswert bis zur Existenzkrise ein.
In solchen Situationen erinnern sie sich gern daran, was der Wähler eigentlich will und neigen dazu, mit der überlegenen Demoskopie zu konkurrieren und das Volk zu befragen. Sie offenbaren also eine fehlende Volksnähe und zeigen, dass ihre politische Diskurse nur noch in Schonräumen ablaufen. Eine Krise des parlamentarischen Systems ist offen sichtlich. Die Bürgerverdrossenheit der Parteien deuten sie um in eine Politikverdrossenheit der Bürger und planen eine Inszenierung und Instrumentalisierung der Bürgernähe. Volksbefragungen sind neuerdings angesagt, vielleicht auch deshalb, weil allein populistisch ausgerichtete neue Parteien mit dem Thema Volksbefragung punkten. Dabei sind Volksbefragungen in der parlamentarischen Demokratie systemfremd, denn der Bürger hat ja für eine festgelegte Zeit, sein Mandat an Abgeordnete weitergegeben, die ja eigentlich wissen müssen, was ihre Wähler wollen. Bürgerentscheide in parlamentarischen Demokratien sind meistens ein Eingeständnis der Hilflosigkeit und werden dann zur Instrumentalisierung des Wählers und zur Simulation einer Bürgernähe eingesetzt oder gar zur Erziehung des Bürgers zu einer Partei hin. Nicht selten sind Volksbefragung aber nur ein Fuß in der Tür für ansonsten machtlose Sonderlinge, wie das Brexitverfahren zeigt.
Die jetzt diskutierte „konsultative Bürgerbefragung“ – vorwiegend in der SPD in Berlin – wäre die Spitze der Bürgerfeindlichkeit, weil man die Bedeutungslosigkeit direkt mitliefern würde. Sie ist dann eben nur konsultativ, also ein unverbindlicher Ratschlag. Sie würde zudem viel Geld kosten, während Demoskopen mit einem Bruchteil der Kosten viel schneller zum gleichen Ergebnis kommen würden. Offenbar ist dabei auch das Ergebnis für die Parteien sehr viel interessante, als das Zustandekommen, sonst wären Gespräche mit Bürgern im Parteialltag das Mittel der Wahl und nicht das Schielen nach der Zahl.