Das aus dem Fenster lehnen

Ich habe in den 50er und 60er Jahren an ziemlich einsamer Stelle in der Großstadt gewohnt, eingerahmt von drei Bahndämmen mit vielen Gleisen und diversen Abwasserbächen. Die D-Zugstrecke führte nahe am Haus über eine Stahlbrücke, deren donnerndes Geräusch für mich zum täglichen und nächtlichen Alltag gehörte. Mit dem Fahrplan in der Hand konnte man mit etwas interpolierendem Geschick danach sogar die Uhr stellen. Wir spielten an den Dämmen und in einem Waldstück, das nur über die Gleise zu erreichen war. Zu der Zeit war es noch häufig, dass man mit dem Zug fuhr. Mit 11 oder 12 Jahren bin ich in den Sommerferien ganz allein mit dem großen Koffer zu Freunden nach Frankreich gefahren und am Anfang oder Ende jeder Fahrt kam ich an unserem Haus vorbei.

Auf all meinen Zugfahrten hatte ich nie ein Buch dabei. Vielmehr war das Abteilfenster mein bunter Fernseher in die Welt. Ich habe ohne Langeweile geguckt und geguckt, niveauvoll und ohne Sinn für Medienkritik. An jedem Fenster stand so eine international aufgebrezelte Bedienungsanweisung.

Ich konnte den Textauszug, den nur eine professionelle Übersetzungsapp geliefert haben konnte, schnell auswendig. Das ganze war mir vertrauenswürdig. Es kam ja von der Deutschen Bundesbahn. Mit der Zeit wurde das Zugfahren durch das Trampen und danach durch das Autofahren ersetzt. Ich bin allein und mit anderen sicherlich zigtausend Kilometer durch ganz Europa getrampt, voller Abenteuer und Erlebnissen. In Norwegen wurde sogar mal unser Fahrer auf freier Strecke verhaftet und in Schweden hielt ein Fahrer ständig eine Dose Bier zwischen den Beinen standfest bereit und verbrauchte davon ca. 2 Dosen für 100 Kilometer – und die Strecke war lang. Das mit den treuen Auto wurde und wird zunehmend uninteressanter. Mit dem obligatorischen Käfer der 80er Jahre musste man bei feuchten Wetter noch mit dem Heck zur Mauer parken, damit der Verteiler nicht nass wurde und man musste an heißen Sommertagen zur Kühlung des Motors die Heizung an machen und im Winter dann die Heizung abdrehen – mit einer Schraube im Fußraum – damit der Motor Betriebstemperatur aufbauen konnte.

Bei allen Mobilitätseskapaden war die Zeit mit der Bahn nicht unübel. Ich habe dort mein reisetaugliches Fernsehen erfunden. Ab und zu kommt mir noch das Schild an den Zugfenstern in den Sinn. Ich kann es noch auswendig vortragen: Nicht hinauslehnen usw.

Der Beginn der Gegenoffensive 

In den letzten Tagen kommt es mir vor, als warte die ganze Welt auf den Beginn der lange angekündigten Gegenoffensive der Ukrainer gegen die übergriffigen Russen.

In jeder auch nur etwas politisch angehauchten Sendung in Funk und Fernsehen wird jedenfalls nach dem Zeitpunkt gefragt und danach, ob die im Moment zu verzeichnenden Waffenbewegungen der Beleg dafür sind, dass der Gegenangriff bereits läuft. Man wäre ein schlechter Krieger, wenn man seine Waffengänge punktgenau ankündigt.

Hass vom Hater

Der diesjährige Evangelische Kirchentag endete in einer Pressemitteilung mit der Überschrift „Hass ist keine Meinung“, die wieder einmal die Rede vom Hass in die Öffentlichkeit trug. Das war einfach zu viel.

Niemand hat je ernsthaft behauptet, dass Hass eine Meinung sei. Aber der Hass hat jedenfalls Konjunktur und gehört mittlerweile in jeden Text, der wichtig sein will. Seitdem Gefühle aus dem Innersten als gesellschaftlich relevant konnotiert sind, suchen wir sie zusammen, erfinden auch Worte, um sie – oft erstmalig – zu benennen und sortieren sie, um unsere Welt zu optimieren. Gefühle deuten wir positiv, stören uns aber daran, dass sie unübersehbar oft auch negativ zu deuten sind. In der Sprachlosigkeit über Gefühle sind die Cluster der negativen Gefühle wahre Kramkisten. Da kommt das Wort Hass gerade recht, um die Kramkiste erst gar nicht zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen. „Wir hassen es alle zu verlieren.“ sagte Robin Gosens am 18.6. 2023 nach einem verlorenen Fußballländerspiel und findet sich unweigerlich direkt neben dem Evangelischen Kirchentag in der Kramkiste Hass.

Eine Meinung ist eine begründete Stellungnahme, die der Nachdenklichkeit bedarf, um in die Welt zu purzeln. Nachdenklichkeit ist bei dem Gebrauchswort Hass vermutlich nicht sehr verbreitet. Das belegt immer sehr gern Martina Hill in ihrer Comedy als Youtuberin Larissa mit dem Satz: „Isch hasse disch – ehrlisch!“

Hass scheint mir ein Wort für eine Kiste zu sein, in die niemand gern reinguckt und die auch keiner aufräumen will. Unserem historisch verschütteten Umgang mit den Gefühlen fehlen eben die Worte. Wir äußern Gefühle, die wir nicht haben – der Klassiker lautet „Mama ist traurig…“ und wir haben für den Privatgebrauch nicht einmal den Ansatz einer kleinen Bibliothek. Wenn nun tagtäglich in unzähligen Medien Hass entdeckt und eingeordnet wird, dann geht es wild durcheinander. Freude, Angst und Hilflosigkeit sind weitaus gefühlsnäher als Hass.  

Hass ist mir ein Placebo. Es wirkt gegen jede Vernunft. Im Fall des Hasses muss ich also lange überlegen, was dahinter steckt. Dabei ist der Erfolg nicht garantiert. Um die Situation eines vermeintlich Hassenden zu beschreiben, benötigt man das Wort Hass nicht.

Die lustige Presse

Als am 26. Juni 2023 der Frachter mit dem Namen Fremantle Highway, vollgeladen mit fabrikfrischen Autos, auf der Nordsee gebrannt hat und samt Ladung vermutlich zum Totalschaden verschmort ist, fiel mir ein, dass früher die Schiffe meistens den Namen von Schwiegermüttern hatten. Damals hätte in der Zeitung etwas von der heißen Erika oder dem flammenden Käthchen gestanden. Jetzt lese ich nur: Auf dem Fremantle Highway ist die Hölle los.

Die lustige Presse

Als am 26. Juni 2023 der Frachter mit dem Namen Fremantle Highway, vollgeladen mit fabrikfrischen Autos, auf der Nordsee gebrannt hat und samt Ladung vermutlich zum Totalschaden verschmort ist, fiel mir ein, dass früher die Schiffe meistens den Namen von Schwiegermüttern hatten. Damals hätte in der Zeitung etwas von der heißen Erika oder dem flammenden Käthchen gestanden. Jetzt lese ich nur: Auf dem Fremantle Highway ist die Hölle los.

Aus der Traum

Da kommt wieder per Post so eine unbestellte Offerte für eine Traumreise.

Da will ich nur mal richtigstellen: Traumreisen gehören einfach nur in den Bereich der Träume. Dabei ist es selten, dass man im Traum durchkonfektioniert reist. Man erlebt viel im Traum, aber ohne Garantie und meist auch gar nicht so sehr weit weg, wie es die Welt ermöglichen würde. In der Wirklichkeit gibt es also keine Traumreisen – schon gar nicht gegen Geld und auch nicht mit großem Rabatt.

Und gerade anschließend kommt jetzt auch noch ein unbestelltes Geschenk mit einem aus der Not geborenen fiesen Briefpapier, unverbindlichem Überweisungsträger und zwei Kugelschreibern von einer Tierschutzorganisation. Erzählt wird eine Geschichte mit dem Foto von einen Hund, der nur etwas Fleisch essen wollte und dem dem der Schlachter dann mit dem Beil mehrere Zentimeter vom Kopf abgehackt hat. Ich zeige das Bild aus guten Gründen nicht.

Das emotionale Lovebombing geht in beiden Fällen gottzeidank unberührt an mir vorbei. Ob Traum oder Antitraum, ich bleibe dann doch lieber auf meinen Geldbündeln sitzen.

Aus einem Heldenleben

Da geht nun der Held von Wimbledon am heutigen Tag für eine Weile ins Gefängnis. Sein Leben geht jetzt nicht mehr so recht weiter, wie er es bisher gestaltet hat. Wer den Insolvenzverwalter auf verlorenem Posten mit unzureichenden Angaben dilettantisch linken will, der hat auch nichts besseres verdient. Da lacht der Profi.

Auf die Strafmaßverkündigung musste das Publikum entgegen der Ankündigung des Gerichts ein paar Stunden warten. Ein Gerichtsreporter meinte, das Strafmaß zeige, dass es vor Gericht eben keinen Promibonus gebe. Das sehe ich anders: Der Rechtsstaat unterscheidet von vornherein nicht nach der jeweilen Prominenz des Angeklagten. Diese stundenlange Verzögerung ist dann aber doch ein Promibonus, und wird für die Weltöffentlichkeit standesgemäß zelebriert. 

Wenn der Held nach guter Führung vorzeitig aus der Haft entlassen wird, werden wohl viele Talkshows auf den Helden Boris Becker warten und sein Privatierskonto für die Wechselfälle des Lebens wieder auffüllen. Eigentlich sollte ja jeder Sträfling irgendwann in eine Talkshow entlassen werden. Aber daran besteht wohl kein wirtschaftliches Interesse. – Schade!

In der Katholischen Kirche 

Der institutionelle Mangel frisst alle Funktionäre auf, erst das geweihte Fachpersonal und schließlich auch die zur Rettung herbeigerufenen Laien.  Ein korrupter Kegelclub mit Wahrheits- und Ewigkeitsanspruch entlarvt sich in der Demokratie mit den Jahren selbst … Niemand braucht Institutionen, die für alle Zeiten auf die Demokratie pfeifen und stattdessen Gottes Wort zurechttreten, wie es ihnen passt. Selbst die Theologie ist da schon mehr an Gott und den Menschen interessiert. Man denke nur an den eschatogischen Vorbehalt, also die Idee von der Unwissbarkeit des richtigen Glaubens.

Es gibt dazu einen alten Witz:
Der Papst Ratzinger steht vor dem Himmelstor und begehrt Einlass. Der Türsteher Petrus fragt nach seinen Referenzen. Ratzinger sagt, er sei Stellvertreter Gottes auf Erden gewesen. Petrus wandelt in die hinteren Räume, um den Umgang mit dem Bittsteller zu regeln. Er wendet sich dazu direkt an Gott: „Da draußen stent jemand der behauptet …“ Gott antwortet: „Meine Güte, existiert der Verein immer noch, den ich vor 2000 Jahren gegründet habe?!“

Die Initiative  #outinchurch liefert in diesen Tagen beeindruckende Dokumente über die Gewalttätigkeit der Katholischen Kirche und fordert ein Ende. Außerhalb der Kirche gibt es eine durchweg positive Resonanz. Wie die Resonanz innerhalb der Kirche ist, wissen wir nur über kleine Löcher in der Fassade. Und man kennt aus der Erfahrung die Grenze der Katholischen Kirche, damit umzugehen.

Institutionen mit festem Wahrheits- und Ewigkeitsanspruch gelten als nicht reformierbar. Verschönerungen an der Fassade mögen darüber hinwegtäuschen. Da bleibt es nur, die Tendenzbetriebe ihrer Tendenz zu berauben und dort die demokratischen Errungenschaften des Gemeinwesens insbesondere im Arbeitsrecht zuzulassen, sowie das Konkordat (von 1933) seitens des Staates zu kündigen, das die Finanzierung der Kirchen durch den Staat über jedes sinnvolle Maß hinaus sicherstellt.  Ein Staatsleistungsablösegesetz – StAblG) schlummert schon seit 2012 und wartet auf eine Verabschiedung. Danach werden Arbeitsplätze in den Kirchen vom Wort aus dem Vatikan entkoppelt sein. Was spricht dagegen, bereits jetzt sich einer anderen Glaubensgemeinschaft zuzuwenden oder gar eine neue Kirche zu gründen?

Risiko ist immer – wer weiß das besser als der bibelfeste Christ?

„I remember“

Jeder leidet selbstverständlich mehr oder weniger und bestimmt auf seine Weise. Aber ein Leid oder Mit-Leid als Massenbewegung ist doch etwas völlig anderes. 

Hinz und Kunz präsentieren sich anlässlich des Jahrestages der Befreiung aus den Vernichtungslagern der Nazis jetzt mit dem gemalten Hashtag #weremember in einer fotogefälligen Position.

Da wälzt sich die Hilflosigkeit in einem Selbstdarstellungsgehabe als Massenbewegung durch die Medien. Alle sind dabei und folgen blind dem Mainstream des guten Tons.

Gut, – das ist besser als nichts. Eine ehrliche Anteilnahme am Leben der Opfer bleibt dahinter zumindest verborgen. Ich bin sicher, dass Leid in  der Form des Mit-Leids andere Ausgrucksformen braucht und hat, die nicht notgedrungen in die Medien gehören. Aber dann guckt ja wieder niemand …

Nachdenkung über die Vorbildfunktion

Der Mensch bastelt ja gern komplexe Substantive, um seinen Vorträgen Nachdruck zu verleihen. Früher war das offenbar nicht so sehr nötig. Noch vor einer Generation hieß es beispielsweise „Vorbild sein“, heute heißt es „Vorbildfunktion haben“.

Ich mag diese neue Überrüstung der Sprache nicht. Sie wirkt martialisch und verhindert dadurch auch, bestimmte Gespächsbeiträge zu bedenken. Sein ist ja immer authentischer als haben (siehe Erich Fromm) und eine Funktion ist ja eine abgeleitete Größe, die ja gar keine Rolle spielt, wenn es um sein oder haben geht.

Um am Beispiel zu bleiben: Das Vorbild an sich wabert seit hunderten von Jahren durch die Geschichte und ist seit jeher an die Idee gebunden, man würde durch reines Nacheifern erwachsen. Das galt für mittelalterlich gut integrierte Gesellschaften und gilt heute noch in wenigen Situationen bei Kindern, die entwicklungsbedingt noch in einer Rollenidentität leben. Für Erwachsene in der Gegenwart und für Kinder ab der Grenze zur sozialen Autonomie ist das Vorbild wertlos, wenn man nicht gerade verbindlich vorgeben will, was er zu tun und zu lassen, zu meinen und zu wünschen hat. Besser ist auf jeden Fall eine flexible Ich-Identität, in der autonome Mensch Kontakte zu allen anderen Menschen gestalten und verantworten kann – Diversität und Inklusion.

Also lasst doch einfach die überrüstete Sprache und alle Vorbilder in euren Denkgebäuden weg! Wir werden uns freuen.