Wenn man 75 Jahre investiert, einem immerwährend treuen großen Bruder zu huldigen, der transkontinentalen verankert ist und alle Eisen aus dem Feuer holt, dann fällt man aus allen Wolken, wenn er sich unübersehbar als egomanischer Scharlatan entpuppt. Man muss dann 75 Jahre verschlafener Emanzipation nachholen. Am besten im Zeitraffer. Aber den gibt es bei komplexen Entwicklungen nicht. Das Leiden an der selbstverschuldeten Unmündigkeit nimmt seinen Lauf und gebärt laufend neue, unechte Heilsbringer, bis die Entwicklung abgeschlossen ist.
Wir haben die Wahl
Heute war ich mal wieder wählen. Ich habe wohl zeitlebens an allen Wahlen teilgenommen, an denen ich teilnehmen konnte. Ich bin da ein alter Hase.
Weil der Wähler der Souverän ist, kommt es ja nicht darauf an, dass er immer brav wählen geht, sondern dass er mühsam wie freudig an einer eigenen Position arbeitet, die seine Wahlentscheidung begründet. Wenn es so ist, kann man dem Wähler seitens der zur Wahl stehenden Parteien nichts vormachen.
Ich bin also heute mit meiner selbst erarbeiteten politischen Position zum Wahllokal gegangen. Ich konnte nicht umhin, so ein laternenumhüllendes Sandwichplakat der CDU mit dem Merz und dem Ortskandidaten Krings auf meiner Augenhöhe wirken zu lassen. Auf dem Weg zu meinem Wahllokal hatte der Wähler keine Chance, dem Plakat gedankenlos aus dem Weg zu gehen. Die Vorschrift, dass Parteienwerbung in der Bannmeile von Wahllokalen nichts zu suchen hat, blieb wohl unbeachtet. Ich brauchte nicht lange, um der Aufforderung der CDU, ihr direkt beide Stimmen zu geben, eine begründete Absage zu erteilen. Dem geblendeten Souverän, wird das Plakat wohl den letzten Schubs geben. Der selbst- und mitverantwortliche emanzipierte Souverän wendet sich nur angewidert ab. Von Rechts wegen hätte der Wahlvorstand das Plakat bereits vor 8 Uhr entfernen müssen.

Zu Hause habe ich lange überlegt, ob ich noch einmal zum Wahllokal gehe, um diese Übergriffigkeit der CDU vorzutragen und um Abhilfe zu bitten. Meine Erfahrungen mit Bureaukratie haben mir abgeraten. In eine Querulantenecke abgeschoben hätte ich bestenfalls als Beschmutzer einer CDU geprägten Lebenswelt den schriftlichen Bescheid bekommen, dass die Werbung ganz knapp außerhalb der (nicht näher definierten) Bannmeile befestigt ist.
Ja, ja – die Bürgerverdrossenheit von Verwaltung und Politik wird fälschlicherweise so gedeutet, als sei der Bürger seinerseits politikverdrossen. Das war freilich noch nie so.
Adieu
Der am 29. September 2024 zurückgetretene FDP-Generalsekretär Djir-Sarai will mit diesem Rücktritt irgendeine Glaubwürdigkeit retten. So sagt er es. Er hatte die Inhalte eines internen FDP-Papiers falsch dargestellt, obwohl die Presse bereits das Papier zur Verfügung hatte. Eigentlich hat er schon damals (vor 12 Jahren) mit seiner gefaketen Dissertation seine Glaubwürdigkeit eingebüßt. Damit war er in der FDP offenbar gut gelitten. Jetzt ist hoffentlich der Lindner im freien Fall, der die FDP zu Tode taktiert hat. Er fragt tatsächlich immer noch in der Öffentlichkeit, was die Presse denn überhaupt Erhebliches zu melden hat über ein Papier das in der FDP angeblich kaum jemand kennt, aber doch in seinem Nebenzimmer verfasst wurde.
Die generalstabsmäßige Sabotage und Auflösung der Regierungskoalition durch die FDP – wie sie in dem jetzt diskutierten Papier vorbereitet war – war eine üble Show, die jede politische Absicht und Verantwortung vermissen lässt und in ihrer Geschmacklosigkeit wohl als letzte Zuckung einer Partei zu werten ist. Zum Glück hat unter demokratischen Bedingungen der Bürger das letzte Wort. Der Bürger ist auf jede einzelne Partei nicht angewiesen, die Parteien auf den Bürger aber schon.
Da capo: Volkspartei
Dieser Bedeutungsverschiebung der letzten Jahre, dass Parteien mit abnehmender Wählerschaft irgendwann keine Volksparteien sein sollen, folge ich nicht.
Der Begriff Volkspartei ist in der soziologischen Würdigung von Parteien entstanden, die keine Klientelparteien (mehr) sind und drauf ausgerichtet sind, für alle Gruppen der Gesellschaft politische Antworten zu liefern. Volksparteien können klein oder groß sein, beides ist aber nebensächlich. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es nämlich hauptsächlich reine Klientelparteien. Sie bedienten ihre Zielgruppe ohne gesamtpolitische Verantwortung. Heute sind Klientelparteien die Ausnahme, obwohl – oder gerade weil – ihre Programme vergleichsweise scharfgezeichnet und besonders verständlich sind, aber die Vielfalt auf der Strecke bleibt.
Okay – das Thema hatte ich schon – aber ich werde nicht müde …
Lügen kann vorteilhaft sein
Politiker, die lügen, sind schwer gelitten. Dabei ist weder im Alltag, noch auf den Bühnen der Welt das Lügen verboten. Im Bereich der sprachlich dargebotenen Kleinkunst ist das Lügen gang und gäbe. Viele Kleinkunstprogramme bauen auf Lügen, oder besser gesagt, auf einer phantasiegeladenen Neuinterpretation ausgesuchter Vorkommnisse. Wenn also der Präsidentschaftskandidat Trump in den USA sagt, dass in Springfield (Ohio) die Flüchtlinge aus Haiti den Bewohnern ihre Hunde und Katzen wegessen, merkt man ja sofort, dass ein solcher „Fakt“ nicht dazu da ist, im beliebten Faktencheck überprüft zu werden. Er wird sofort als Phantasiegeschichte interpretiert, die eine gefühlte Wahrheit bildreich vermitteln soll. Und so ist es auch. Der gut entwickelte Mensch lacht sich schlapp und der sozial wie materiell abgehängte Zeitgenosse fürchtet um den letzten Hund, der ihm geblieben ist. In der Politik sind diese Räuberpistolen sehr beliebt. Man fordert Dinge, die gar nicht möglich sind und strickt dann – wie im Stegreiftheater – Geschichten, die es als geradezu unabdingbar hinstellen. Die Vorschiebefigur der CDU, namens Merz, hat es beispielsweise besonders gut drauf, im Brustton der Überzeugung Räuberpistolen zu konstruieren, die der Grundlage entbehren und trotz allen Widerspruchs, sogar wegen des Widerspruchs aus Politik und Wissenschaft, große Anerkennung finden. Solcherlei Populismus mag zwar an den Rändern des politischen Spektrums begonnen haben, salonfähig wird er aber dort, wo Besitzstände verteidigt werden, nämlich in der Mitte. An den Rändern des politischen Spektrums bleibt zumindest die Möglichkeit, mit Innovationen zu überzeugen – wenn sich denn nun jemand überzeugen lässt.
Der kleine Donny geht zum Beginn des Schultags zu seiner Lehrerin und sagt betroffen: Mein Hund hat meine Hausaufgaben aufgefressen und dann kam ein Ausländer und hat meinen Hund aufgefressen. – Ich habe das einmal aus einem gerade kursierenden Comic nacherzählt.
In den USA: Wer wählt wen und warum?
Die anstehende Präsidentschaftswahlen in den USA scheitert wohl nicht mit dem anstehenden Wahlergebnis, sondern an der Qualität der Kandidaten. Beiden Kandidaten mangelt es an einer Qualifikation, die nicht vom Alter überschattet werden. Der eine ist ein selbstgefälliger und über die Jahre verhärteter Alltagslügner, der sein Selbstbild schon lange Zeit nicht mehr überprüft und sich vor laufender Kamera rücksichtslos in die erste Reihe boxt. Der andere ist körperlich und geistig derart hinfällig und müde, dass er ohne externe Stützen eine politische Position kaum noch behaupten kann. Ich kritisiere weder den einen noch den anderen. Sie zollen nur dem Zahn der Zeit Tribut.
Es erscheint mir aber bedenklich, wenn ein demokratisches Gemeinwesen auf ganzer Linie die Zeit verschläft und potentiell fähige Politiker lieber als erfolgreiche Businesspeople wegschiebt, und die Politik selbst den Greisen überlässt.
Weltweit gibt es schon genug Versuche, den mühsamen aber lehrreichen Weg der demokratischen Willensbildung einem einsamen Autokraten zu schenken. Viele kämpfen dagegen. In den USA erscheint mir eine breite Mehrheit nur uninteressiert. Die lauernden Autokraten sehen sie nicht als Gefahr.
Über das Verbieten
Der erwachsene Mensch lässt sich nichts verbieten und sieht grundsätzlich auch keinen Sinn in Verboten. Lediglich die im Strafrecht traditionell aufgelisteten Verbote sind eine Ausnahme, obwohl auch sie einem Wandel unterliegen: Man reagiert zunehmend durch Einsicht und weniger aus Angst vor Strafe.
Nun hat es sich aber in der Vielfalt der bürgeroffenen Kommunikationskanäle über die Jahre eingebürgert, dass man seiner Meinungsposition nicht in der Analyse des Sachverhaltes schärft, bevor man sie loslässt. Man sagt einfach irgendwas. Und es ist ja meist auch niemand von Angesicht zu Angesicht in der Lage Paroli zu bieten. Die sozialen Netze zerplatzen mittlerweile in einer stattlichen Welle ungefragter Meinungen. Stellungnahmen zu geäußerten Meinungen sind selten. Meinungen, die Shitstorms auslösen, sind auch selten, finden aber wenigstens Beachtung. Die Vielzahl der unbeachteten Meinungsäußernden fühlt sich daraufhin gern als eine Randgruppe, die systematisch übergangen wird.
Wenn sie zufällig Bauer sind, fahren sie plötzlich nicht mehr mit dem Traktor über den Acker, sondern durch die große Stadt und prahlen mit ihrer Meinung auf Papptafeln, die den Traktor zum Hingucker werden lassen.
Sie sind damit in einer Kehrtwende angekommen und deuten die ursprüngliche Nichtbeachtung als Verbot, das ihnen zuversichtlich schon bald nichts mehr anhaben wird. Wenn wir von der repräsentativen Demokratie absehen oder sie geringschätzen, nennen wir alle gern dazu mächtige Landmaschinen ins Feld zu führen und damit unsere Meinung durchzusetzen. Es ist dann gleichgültig, was wir einmal gewählt haben. Und schließlich haben die Volksvertreter ihre Diäten wohl auch nicht verdient, weil wir jetzt wieder alles fein selbst machen.
Aktive Sprachverwirrung
Ich habe aus dem putinschen Sprachgebrauch einmal das Wort „Spezialoperation“ ausgeliehen, das er gegen „Krieg“ eintauscht und volksverbindlich macht.
Die anstehende Wahl in Russland nenne ich jetzt auch Spezialoperation. Eine Wahl wird es – das kann man jetzt schon sagen – nicht sein, sondern ein ebenso krasses Herrschaftsinstrument wie es ein Krieg oder ein schlichter Einzelmord auch sind.
Waffenverbot
Irgendwann war die Waffe in der Welt und entwickelte sich immer raffinierter im Zeitgeist. Solche Entwicklungen lassen sich nicht einmal rückgängig machen. Das ist das Wesen von Entwicklungen. Also müssen wir lernen, mit den Waffen menschenmöglich gut umzugehen. Das ist möglich, aber alles andere als selbstverständlich. Denn mancher Waffenbesitzer wähnt sich als Waffenträger auf der sicheren Seite. Ohne Waffen kann es bekanntlich auch gewalttätig zugehen. Mit Waffen sind Gewalttätigkeiten aber nicht selten tödlich. Wir kommen also wirklich nicht daran vorbei, die Waffen so gut zu kennen, dass wir mit gutem Grund auf ihren Einsatz verzichten. Das, was für Kampfsportler selbstverständlich ist, gilt auch für die Besitzer der unzähligen kleinen und großen Waffen auf dieser Welt.
Dass mit Waffen auch ab und zu das falsche gemacht wird lässt sich durch verbindliche Regelungen minimieren, aber nicht verhindern. Es kommt in jedem Fall darauf an, dass auf der Basis von Ethik und Moral über einen Waffengebrauch entschieden wird.
Deutungshoheit
Von der Satirepartei „Die Partei“ wurde argumentiert, dass hinter „Nazis töten.“ ein Punkt und kein Ausrufezeichen stehe und es daher keine Aufforderung sein könne. Sie hatte damit ihre Wahlwerbung pointiert.
Es geht ja eigentlich um eine Zweideutigkeit, die man für den mündigen Bürger bestenfalls ja auch ohne Anweisung ausliefert. Der Streit darüber befeuert nur die Absicht, solche Zweideutigkeiten bloß nicht aufzugeben. Im direkten Gespräch wäre die Zweideutigkeit schnell weg, weil man sich dann notgedrungen zu einer Variante bekennt.
Schade! – Insofern ist es das Optimum, wenn man dem Zweiwortsatz auch noch den Punkt wegnimmt.