Mein erstes Fahrrad

Es war Mitte der 50er Jahre, als ein mir unbekannter junger Mann zu uns kam. Er brachte uns ein Fahrrad. Er hatte es sich für die Zeit seines Studiums von meinem Vater ausgeliehen. Jetzt war plötzlich ein Fahrrad da. Ich hatte nicht damit rechnen können, dass es so plötzlich ein Fahrrad in der Familie geben würde. Mein Vater fuhr stets Auto, zu der Zeit wohl einen Renault. Das Rad war einfach nur schwarz, aus der Vorkriegszeit und für erwachsene Männer. Keine Frau wäre damals damit gefahren. Viele Frauen, wie auch meine Mutter, konnten gar nicht radfahrern. Behütete Lebensbedingungen in der Kindheit beinhalteten häufig überhaupt keinen Kontakt zu einem Fahrrad. Kinderfahrräder waren sehr selten. Das Rad hatte keine Gangschaltung und keinen Kettenschutz, wohl aber eine überdimensionierte Lampe mit einem Drehschalter oben drauf, eine Rücktrittbremse, sowie eine Handbremse mit einem Gestänge, das im Betätigungsfallein breites Gummi oben auf den Reifen drückte. Die Schutzbleche klapperten nicht. 

Am nächsten Tag habe ich mit den Zwillingen, die auch im Haus wohnten, einen Plan gemacht, wie wir uns den Umgang mit dem Fahrrad aneignen könnten. Als geübte Rollerfahrer hatten wir mit dem Gleichgewicht auf dem Fahrrad kein Problem. Die Stange war so hoch, dass ich nur stehend fahren könnte und dabei immer Gefahr lief, schmerzhaft mit der Stange zu kollidieren und eventuell umzufallen. Wir schoben das Rad in den alten Weg gegenüber, der 100 Meter geradeaus ging, dann über die Brücke der Köttelbecke führte und nach einer Kurve sehr steil und uneben Anstieg. Auf dem ganzen Weg gab es außer uns Radfahrern nur Fußgänger. Zunächst fuhren wir abwechselnd auf dem geraden Stück und hielten uns dann irgendwann am Zaun der Brücke fest, manchmal auch vorzeitig am Weidezaun. Das Auf- und Absteigen blieb ein Problem. Die anderen beiden hatten schnell den Trick raus, das rechte Bein unter der Stange herzuführen, um mit leicht verdrehtem Körper auf dem leicht verdrehten Fahrrad zu fahren, weil ihre Beine einfach zu kurz waren, um in normaler Position zu fahren. Nachdem wir mehrmals abrupt halten mussten, weil sich die Hose zwischen Kette und Kettenblatt eingeklemmt hatte, haben wir die rechten Hosenbeine immer hochgekrempelt. Während einer fuhr, liefen die andern nebenher und gaben Tips und leisteten Nothilfe. Täglich trafen wir dort auch Opa Hekel, ein Bergmann in Rente, der an den Hängen der Köttelbecke seine Schafe weidete. Er hatte sogar einen Schlüssel von der Emschergenossenschaft für das Tor neben der Brücke, um sich dort um seine Schafe kümmern zu können und gleichzeitig die Ufer zu pflegen. Er war ein von allen Kindern der Gegend hochgeachteter, humorvoller und weiser Mann mit Regalen voller eingekochten Schaffleisches im heimischen Keller. Wir haben ihm dann immer gezeigt, wie gut wir waren. Das hat ihn beeindruckt. Dann wurde die Übungsstrecke irgendwann auf den Berg ausgeweitet. Ohne Gangschaltung und mit der Kraft der Siebenjährigen schafften wir den Berg nicht, der übrigens Mülheim-Heißen und Essen-Frohnhausen immer noch verbindet. Aber es war der Ehrgeiz, so weit wie möglich zu kommen, um dann dort Markierungen für einen Leistungsvergleich anzubringen. An irgendeiner Stelle war der Schwung aufgebraucht und man konnte dann noch ein einziges Mal das ganze Körpergewicht auf eine Pedale drücken, und dann war unweigerlich das Ende der Fahrt erreicht. Bis obenhin kam niemand.

Wir waren wohl einen ganzen Sommer damit befasst, dort mit unserem Fahrrad zu fahren. Es war eine schöne Zeit! – 

Mein zweites Fahrrad bekam ich erst ein paar Jahre später zu Weihnachten. Es war ein gebrauchtes graues HWE mit Dreigangkettenschaltung und Freilauf und wie neu. Ich bin damit immer zur Schule gefahren, habe es wöchentlich geputzt und ich habe damit die Städte der Umgebung erkundet. Fahrradfahren war ganz viel Freiheit … Übrigens hieß es nie Rad, immer Fahrrad, ausgesprochen: Farratt.

Verkehrsgerecht

Wenn es um den Straßenverkehr geht, beraubt uns die Idee vom ewigen Stau von allen Notwendigkeiten, den Verkehr zu regeln. Denn wo kein Fortkommen ist, ist auch streng genommen kein Verkehr, der geregelt werden könnte. Mit dem Verkehr sind wir also vor allem dann befasst, wenn der Stau kurz bevorsteht. Es gibt unübersehbar viele Fahrzeuge auf Straßen und Brücken, die ständig überfordert werden. Dabei hat das ganze Verkehrschaos damit angefangen, dass der Fußgänger seinen angeborenen Vorrang verloren hat, in dem Rücksichtnahme auf Schwache und Hilfsbedürftige direkt eingebaut ist. Bürgersteige und Fußgängerzonen sind die Versuche, den Fußgänger als lästigen Verkehrsteilnehmer abzuschieben und ihm gleichzeitig zu sagen, dass es nur zu seinem besten ist. Nach und nach ist der Radfahrer an die Stelle des Fußgängers getreten. Das ist ein weitaus größeres Problem, weil man dem Radfahrer augenscheinlich nicht so einfach mit einer Spielwiese vom Verkehr ausschließen kann, obwohl ja das motorisierte Fahrzeug bis zum nächsten Stau vom Radfahrer nur eingebremst und belästigt wird. Nur in kleinen Nischen wird das Radfahren mit seinem wirtschaftlichen Mobilitätsradius als große Innovation gesehen. Dass Autohersteller zum Teil exklusive Fahrräder als Zusatzausstattung ihrer Autos anbieten führt eine Friedfertigkeit vor, die es nicht gibt. Der Radfahrer folgt dem Fußgänger widerwillig in eine eigene Nische und gerät dort dann wieder an den Fußgänger, der ihm trotz älterer Rechte meistens unterlegen ist. Es entwickelt sich ein Kampf. Der Radfahrer nutzt Gehwege mittlerweile wie selbstverständlich, auch ohne an jeder Haustür anzuhalten, um die Kollision mit denen zu vermeiden, die gerade das Haus verlassen. Sie umfahren ampelbewehrte Kreuzungen gern auch mit einem energischen Wechsel auf den linksseitigen Bürgersteig und reklamieren oft eine Vorfahrt, weil sie eben Radfahrer sind. Die Ordnungsbehörden und die Polizei haben es mittlerweile aufgegeben Verkehrsverstöße von Radfahrern zu ahnden und die Begegnungen von Radfahrern mit anderen Verkehrsteilnehmern irgendwie zu ordnen.

Offenbar leidet das gesamte Verkehrssystem daran, dass die Orientierungsnorm Autobahn für die Begegnung mobiler Menschen ungeeignet ist. Der Radfahrer macht das offenbar pragmatisch Sinnvolle und bastelt sich seine eigene egoistisch überhöhte Norm und Rechtfertigung. Am besten lässt sich das Städten mit einem hohen Anteil radfahrender Hochschulangehöriger beobachten. Ich kann sie verstehen. Dem Fußgänger kann das aber trotzdem nicht recht sein, weil er ja weitgehend unbeschadet sein Ziel erreichen will.

Offenbar ist es erforderlich, das Verkehrssystem so lange mit Ordnungswidrigkeiten und deren Ahndung, Widersprüchen und Klagen zu überfordern, bis die Infrastruktur an der Priorität des Fußgängers ausgerichtet ist und die Verkehrsregeln daran angepasst werden. Letztens habe ich vorbeugend „Buhh“ gerufen, als ich durch das Haus verließ. Und tatsächlich steuerte ein Radfahrer unvorbereitet auf ein parkendes Auto, das ihn vor dem Straßenverkehr auf der für ihn falschen Straßenseite rettete.