Wahlrecht und Alter

Der Ökonom Marcel Fratzscher koppelt – wohl auf ironische Weise – das Wahlalter am Beginn des Lebens mit dem Wahlalter am Ende des Lebens: „Wenn Menschen in den ersten 18 Jahren nicht wählen dürfen, dann sollten sie in den letzten 18 Jahren ihres Lebens auch nicht wählen dürfen.“ (FOCUS 7.10.25)

Ich nehme das jetzt einfach mal zum tieferen Verständnis ernst:

Das Wahlrecht ist bei Kindern und Jugendlichen auf merkwürdige Art an die Mündigkeit gekoppelt. Und weil die Mündigkeit ein juristisch ziemlich unpräziser Begriff ist, greift man hilfsweise zum Alter, das dagegen stets sehr präzise bestimmt werden kann. Das macht der Gesetzgeber oft, um die Rechtssicherheit zu gewährleisten, auch wenn das praktische Leben variiert. Man stützt sich dabei einfach auf die falsche Hypothese, das Alter ginge mit der Mündigkeit einher, wohlwissend, dass die Mündigkeit mit der Zeit meist irgendwann eintritt.

Nun könnte man das gleiche Verfahren auch für die letzten 18 Jahre des Leben vorschlagen. 

Das ist aber ebenso fragwürdig wie bei den noch nicht Wahlmündigen. Hinzu kommt, dass ja der Tod nicht kalendarisch voraus zu bestimmen ist und damit auch nicht der Beginn der angenommenen Wahlunmündigkeit. Hinzu kommt, dass die Altersdemenz, einem sich anbietenden Indikator für eine Wahlunmündigkeit kaum mit den letzten 18 Lebensjahren eingeläutet wird. Es gibt sogar heftige Demenzformen, die mitten im Leben und davor das Seelenleben und damit nicht zuletzt auch die Mündigkeit erheblich herunterfahren. Trotz aller Demenz handelt es sich aber um Menschen, die reichlich Lebenserfahrung aufgebaut haben und bei aller Demenz alltagspraktisch trotzdem anwenden. Ganz unabhängig davon gibt es große Gruppen von Menschen, die nicht verbindlich auf Mündigkeit getestet worden sind, aber den Alltag mit allen Herausforderungen und auch die Wahlen nicht allein bewältigen können. 

Zur Demokratie gehört aber voraussetzungslos das allgemeine Wahlrecht, selbst dann, wenn beispielsweise ein Bürger den Wahlzettel nicht einmal lesen, geschweige denn Wahlentscheidungen lediglich nachplappern kann. Einen Wahlbefähigungsnachweis verbietet das Menschenrecht, nicht jedoch Lernkurse zur Wahlbefähigung für Jedermann. Mit dem Ende der Apartheidsstaaten im Süden Afrikas hat man gegen alle tradierten Argumente, der benachteiligte nichtweisse Mensch könne überhaupt nicht wählen, sofort das allgemeine Wahlrecht ohne wenn und aber eingeführt. Allein die selbstverständliche Praxis freier Wahlen wird auch Lernerfolge zur Bewältigung des demokratischen Alltags nach sich ziehen und in einer Normalverteilung der Fähigkeiten und Fertigkeiten niederschlagen. Unter der Normalverteilungskurve werden sich selbstverständlich auch Säuglinge und Hundertfünfzehnjährige und irgendwie beeinträchtigte Menschen einfinden. Bei älteren Menschen ist es aber genauso wie bei den Kindern: Das Lernen demokratischer Vollzüge findet tagespraktisch immer statt, in Familien, Kindergärten, Schulen Betrieben und so weiter. Und schließlich dann auch mit dem gesetzlich festgelegten Alter auch Parlamentswahlen. Es ist doch klar, dass viele Kinder bereits Jahre zuvor die Skills drauf haben, mitverantwortlich zu wählen und dass sie sich von den Erwachsenen darin nur geringfügig unterscheiden. Es wird deshalb ja auch versucht, beispielsweise Kommunalwahlen in der Lebenswelt der älteren Kinder zu nutzen, das Wahlalter herabzusetzen und den Ausschluss von den Wahlen sukzessive aufzuheben.

Insofern sieht die Gesellschaft für Kinder einen Weg, der alten Menschen nicht verschlossen ist. Für beide gelten die gleichen Argumente. Was kritisch bleibt, ist die Manipulierbarkeit durch andere Menschen. Im Alter wäre es der Enkeltrick als Wahlkampfmittel politischer Parteien. Im Kinderleben wären es Wahlgeschenke nach Kindergeschmack. Weil Wahlgeschenke aber ohnehin weit verbreitet sind, kann man vermuten, dass die Manipulierbarkeit von Kindern und alten Leuten keine neue Qualität haben. Das läuft ohnehin, auch wenn es nur die Kugelschreiber sind.

Alte Menschen wählen so selbstverständlich über Stolpersteine hinweg, wie es Kinder auch tun sollten.

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