Israel lebt am Miteinander vorbei

Aus zurückliegenden Erfahrungen weiß ich, dass Israel über viele Jahrzehnte eher sozialdemokratisch, also wirklich demokratisch ausgerichtet war. Ich erinnere mich gar an ungezwungene Geselligkeit mit Juden und Moslems am gleichen Tisch mit gleichem Essen und gleichen Getränken. Mit den massiven Einwanderungen in der Zeit nach Gorbatschow und dem ideologischen Interesse wohlhabender Juden aus den USA, gab es eine Willensbildung, die die Schulen und die Armee als wichtige Sozialisationsinstanzen in Israel nicht mehr so richtig bewältigen konnten. Der immer schon rechtsextreme Netanjahu nutzte die sich daraus ergebenden Freiräume und Subkulturen in der Politik mit wechselnden Mehrheiten dubioser selbstgefälliger Parteien. Mittlerweile wird der israelische Rechtsstaat geschleift und der Politik angepasst. Die eher humansozialistischen Ideen aus der Kibbuzbewegung spielen kaum eine Rolle mehr.

Die Selbstverpflichtung Deutschlands, Israel bedingungslos beizustehen, ist historisch und praktisch sehr vernünftig. Mit der Politik im Fahrwasser Netanjahus ist allerdings die Voraussetzung nach und nach weggefallen, Israel beizustehen. Israel hat mit einer rassistischen und menschenverachtenden Innen- und Außenpolitik mittlerweile alle Kredite aufgebraucht. Aus dem Beistand ist eine Mitverantwortung geworden, die eine deutliche Sprache und deutliche Entscheidungen erforderlich macht, um eine gebotene Menschenfreundlichkeit für Israel insgesamt wieder herzustellen. Ob das gelingt, das ist mehr als fragwürdig.

Über selbstgemachte Heilsversprechen 

Wenn man 75 Jahre investiert, einem  immerwährend treuen großen Bruder zu huldigen, der transkontinentalen verankert ist und alle Eisen aus dem Feuer holt, dann fällt man aus allen Wolken, wenn er sich unübersehbar als egomanischer Scharlatan entpuppt. Man muss dann 75 Jahre verschlafener Emanzipation nachholen. Am besten im Zeitraffer. Aber den gibt es bei komplexen Entwicklungen nicht. Das Leiden an der selbstverschuldeten Unmündigkeit nimmt seinen Lauf und gebärt laufend neue, unechte Heilsbringer, bis die Entwicklung abgeschlossen ist.

Integration in schwierigem Gelände …

Die Türken haben mit dem Ja nicht für die Verfassungsreform gestimmt und – wie es so aussieht – auch nicht für Erdoğan, sondern gegen Deutschland, das sie systematisch vernachlässigt.

Man möchte differenzieren und wird dann doch wieder derart grobschlächtig pauschal.
Wie ist das denn nun mit der Integration im allgemeinen und mit den Türken im besonderen?


In Deutschland gibt es ein gefälliges Schweigen über die Integration, so als habe man sich bereits vor der Ankunft fremder Menschen einstimmig darauf geeinigt, was das sein soll. Wenn die Fremden nicht mehr als solche zu hören und zu sehen sind -so sagt es gern der befragte Bürger – dann ist die Integration wohl gelungen. Aber dem liegt die erzkonservative Phantasie zugrunde, die Integration sei allein eine engagierte Anpassungsleistung des Fremden. Der Deutsche sagt nur, wie er es denn gern hätte. Wenn du so bleiben willst, wie du bist, dann kannst du das als eine gute Sache deuten. Aber wie schrecklich würde es ausgehen, wenn dein Nachbar sich von dir gar nicht mehr unterscheidet? Ihr würdet nicht einmal mehr miteinander reden brauchen, sondern würdet zum selben Bier Jahr für Jahr die selben alten Lieder gemeinsam singen. Eigentlich sind wir partiell ja auch schon viel weiter: Im direkten Kontakt mit dem Fremden erfahren beide Seiten abweichende Sichten auf die Welt, neue Möglichkeiten des Handelns und viel Respekt. Und die Vielfalt wird als Gewinn gedeutet. Es wäre ein Verlust, wenn der Fremde nur als Schützenkönig zeigen kann, wie verdammt gut er integriert ist.


Bei den Türken ist das nicht anders. Es gibt aber Besonderheiten, die dem zugereisten Türken schnell vermitteln, er würde in einer exterritorialen Provinz seines Herkunftslandes leben. Es gibt, über die Jahre gewachsen, größere Familien und Verwandtschaftsbeziehungen in denen sich der Kontakt nach außen auf wenige Personen delegieren lässt. Es gibt Infrastrukturen, die oft flächendeckend den Konsum, die Religionsausübung, die Politik, die Kultur und die Folklore ohne einen erkennbaren Integrationsanspruch und in türkischer Sprache ermöglichen. Die Elemente dieser Infrastruktur holen den Glanz des großtürkischen Reichs zurück und folgen damit auch der für Weltbürger höchst gewöhnungsbedürftigen Überbetonung alles Türkischen. Das hat eine Tradition, die Atatürk über die Zeit sogar mit Erdoğan verbindet. In einem Fahnenmeer verzehrt sich eine großsolidarische Türkischtümelei, die bereits vor Jahren von Erdoğan in seinen exterritorialen Wahlkampftreden bedient wurde: Alle sollen fleißig Anpassungen im fremden Land leisten, und dabei nie vergessen, dass sie das alles nur für die Türkei tun. Erdoğans Erwartungen an die Gesellschaft und an den Einzelnen Fällen zusammen. Eine Diversität ist nicht vorgesehen. So kommod lässt sich Leben, wenn man sich als Fremder so erzkonservativ einrichtet, wie es dem beliebtesten deutschen Integrationsverständnis entspricht, obwohl man es sich ja eigentlich als Fremder nicht leisten kann. Die weitgehende Abkapselung türkischer Lebenswelten macht das aber möglich. Es ist also ein Missverständnis, wenn auf diese Art und Weise die Fremden zu Einheimischen der exterritorialen Extraklasse werden. Größere Institutionen in der türkischen Community tun aber alles dafür, die Idee der türkischen Provinz in Deutschland zu füttern und haben Zuspruch damit. Das alles wird über die grenzenlos zusammengewachsene Medienwelt zusätzlich unterstützt. Kein Fremder muss deutsche Nachrichten hören, sehen oder lesen, wenn er Türke ist. In Deutschland wird türkischer Wahlkampf betrieben und niemandem fällt auf, dass die Souveränität eines Landes an dessen Grenzen endet. Es wird in einem stark laizistisch ausgerichteten Land, die in der Türkei dominante Religion über eine spezifische türkische Staatsbehörde so ausgebaut, dass den Menschen in der Auslandsprovinz jederzeit gesagt werden kann, was für sie gut sein soll und er wird sogar bespitzelt.


Im Alltag und an der Nahtstelle zum deutschen Leben gibt es allerdings zahlreiche Verwerfungen, die sich mit den Mitteln der türkischen Community kaum verstehen, geschweige denn bewältigen lassen. Wenn es um die unvermeidlichen Kontakte zu deutschen Institutionen geht, dann muss der Enkel oft dem Arzt die Symptome der Großmutter schildern, bevölkern Großfamilien Krankenhauszimmer, fordern zahlreiche türkische Institutionen im Schulterschluss mit ihrem Klientel, eine Möbelkette zu boykottieren, weil sie Fußmatten mit dem Symbol einer Moschee anbietet. Es werden auf Wunsch türkischer Institutionen mit dem Ziel der Integration Erwachsenenbildungsveranstaltungen mit deutschen Integrationsmitteln gefördert, in denen schließlich bei aller propagierte Offenheit Türken unter sich sind. Und bleiben. List man allein die Webseiten aus den in Deutschland tätigen türkischen Communitys, liest man kaum etwas auf Deutsch und die Phalanx der Vorsitzenden ist wichtiger als der Inhalt. Alle Ziele sind beanstandungslos, Belege über die Verwirklichung sind dürftig. Dazu gibt es unzählige weitere Beispiele.


Die Toleranz, die Freiheitsrechte nach sich ziehen, schwappt bisweilen in die Gleichgültigkeit, in der solch fragwürdige Entwicklungen von und in Konkurrenzgesellschaften gern übersehen werden. Man guckt hin und fragt erst, wenn es unübersehbar ist. Es wäre hilfreich, so etwas zeitiger zum Thema zu machen.


Nun ist es so, dass es sehr viele Menschen aus der Türkei gibt, die hier so heimisch geworden sind, dass sie sich vorrangig und autonom außerhalb türkischer Lebenswelten orientieren. Selbst wenn sich an türkischen Operettenabstimmungen teilnehmen können, entscheiden sie sich gern mit demokratischen Anspruch dagegen. Sie sind unter den ca. 50% derer zu finden, die – aus welchen anderen Gründen auch immer – nicht gewählt haben.
Das selbst gemachte Problem mit der Volksabstimmung in der Türkei auf der deutschen Seite besteht wohl darin, dass es überhaupt zwei konkurrierende Integrationswege bei beiderseits defizitärem Integrationsverständnis gibt. In solchen Situationen der Konkurrenz neigt man dazu, die Konfliktlinien zum eigenen Wohl zu verschieben und einen Schuldigen zu suchen. Der Fremde war immer schon Schuld und für den Fremden selbst bleibt nur der Einheimische, der ihn ständig zurück weist.


Es ist klar, dass man dann auch einmal gern eine totalitäre Verfassungsstruktur in der Türkei wählt, um die als abweisend eingeschätzten Deutschen zu treffen. Man nutzt mangels Alternativen ein falsches Objekt und eine fragwürdige Hypothese für ein richtiges Ziel.


Im Alltag versteht das niemand mehr … Es hilft also nur noch das Reden und ich bin sicher, dass sich immer ein guter Gesprächspartner findet.

Siehe auch