Meine Erinnerungskultur

Das Erinnern hat Konjunktur. Fast alles in der modernen Welt ist so vielfältig und schnell, dass es ab und zu der Erinnerung bedarf. Dazu gehört auch, dass man sich selbst erinnert. Zweckgerichtet verstreut man überall Symbole, die antriggern. Und dann erinnert man sich plötzlich daran, dass man doch noch den Stimmungsaufheller nehmen wollte. Findig, aber nicht sprachdienlich ist es, das Reflexivpronomen einfach wegzulassen.

Dass die Erinnerungsarbeit offenbar keine Zeit für das Reflexivpronomen hat, trifft mich täglich hart, also immer dann, wenn jemand „ich erinnere“ sagt und ich ein lautes „mich“ hinüber schreie. Ich höre danach immer eine unerfüllte Leere.  Nun kann es ja sein, dass der eine oder die andere das so aus einer fremden Sprache übersetzt und dann entlehnt hat. Aber fast alle, die sich in letzter Zeit um mich herum in dieser Richtung auffällig bewegen, könnten getrost als modebewusste Mitläufer kategorisiert werden.

MitleserIch sage das nur, weil tagtäglich ganze Horden von Eltern „haben“ brüllen, wenn deren Kinder mal wieder so etwas fragen wie: „Mama, darf ich ein Eis?“ – Das erinnert doch der aufmerksame Mitleser sofort.

Sem

Es ist nicht selten, dass dem Guten auch das Böse folgt. Die französische Revolution war der Anlass für eine beispiellose Demokratiebewegung in ganz Europa. Der Bürger wurde zum Souverän. Die grenzenlose Offenheit des Denkens machte die ungeübten Bürger jedoch skeptisch, ob denn wirklich jederman geeignet sei, zu wählen oder sich gar wählen zu lassen. Ihren ideologischen Überbau gewährleisten alle Dichter und Denker, die schon lange zuvor Andersdenkende und Andersausehende markiert hatten und nun mit Macht den praktischen Rassismus mit einer Theorie bekleideten und diese in den Bereich wissenschaftlicher Anerkennung bugsierten. Es folgte eine Rassentheorie samt Rassenlehre, die auch dem einfachen Menschen zur Rückversicherung diente. Man arbeitete in der Rassenforschung und nannte die vertretene Position Antisemitismus. Die unbarmherzige Verfolgung anders denkender und anders aussehender Menschen war mit der französischen Revolution zwar absichtlich beendet, wurde aber ideologisch nachgearbeitet und führte zu einer scheinbar wissenschaftlichen Begründung, warum bestimmte Menschen einfach nicht dabei sein sollten. Zunächst wurden arme Leute, Frauen und Kinder, Juden, Homosexuelle, Kriminelle und natürlich Menschen mit auffälliger Hautfarbe oder Kleidung ausgegrenzt. Bis zum heutigen Tag wurde die Demokratie weiterentwickelt und gefestigt, ist aber nicht beendet. Demokratie kann nie im sicheren Besitz sein, denn sie muss tagtäglich gewagt werden.

In der Anfangszeit des pseudowissenschaftlichen Rassismus prägte man zunächst den ausgedachten Begriff Antisemitismus. Man hatte also begriffsgetreu alle Gruppen als auszugrenzende Rasse markiert, die semitische Merkmale hatten. Sie gehen alle auf Sem, einen Sohn Noahs zurück, sprechen eine semitische Sprachen. Hauptsächlich waren es Araber, Juden, Aramäer, die sich seit dem Urvater Sem bei aller Gemeinsamkeit höchst unterschiedlich entwickelt hatten. Die Diskussion führte am Ende des 19. Jahrhunderts dazu, dass man mit den traditionell verhassten Juden eigentlich doch nicht die Araber ausgrenzen wollte. Die Ideologen des Judenhasses behielten den für diese Zeit der Rassentheorien den Begriff Antisemitismus bei, wandten ihn aber nur auf die Gruppe der Juden an. Das hörte sich weitaus seriöser an als Rassismus und hat sogar bis in die heutige Zeit überdauert. Wer heute den Weg zurück in die Anfänge des Redens über den Antisemetismus macht, kommt nicht daran vorbei, dass auch Araber selbst in Bibel und Koran Semiten sind und dass ein forcierter Angriff auf Juden eben auch die gleichrassigen Araber treffen müsste. Das denkt man aber nicht mehr und untermauert eine realpolitisch liebsame manifestierte Bedeutungsverschiebung. Die Definition heißt: Judenfeindschaft bedeutet in Fachdiskursen Antisemitismus. Man behält also das an sich als Rassismus enttarnte Wort Antisemitismus bei, sieht darin aber nicht mehr einen Segen für das deutsche Volk, sondern einen Spezialrassismus, der andere verfolgte Minderheiten nicht mitbedenkt. 

Unter Freunden

Meine Freundin K. (11 Jahre alt) sagt heute beim Frühstück: „Und gleich werde ich erstmal Skin Care machen!“

Meine Frage, was das denn sei, wird zunächst mit einem mitleidsvollen „Vergisses!“ quittiert. Ich hatte das schon deshalb nicht verstanden, weil ein englisches Wort meist in meinem Hörkonzept keinen Ankerpunkt findet. Meine Beharrlichkeit führte dann zu einem Diskurs in der englischen Sprache. Too much on the nose. Danach soll es dem Vernehmen nach für die Schule um das lyrische Ich gehen.

Conclusio:
With the sentence „Die in hell!“ you can  buy shoes in Germany.

Da explodiert wieder einmal etwas!

Die Entwicklung der Sprache bringt Bedeutungsverschiebungen mit sich. Das ist ganz normal. Nach etlichen Jahrhunderten hat ein Wort scheinbar plötzlich eine ganz andere Bedeutung. Der kurzlebige Mensch merkt das meistens nicht. Es gibt aber Ausnahmefälle. In der modernen hyperdynamisierten Welt mit internationalen Verflechtungen kann es auch mal ganz schnell gehen.

Ein gutes Beispiel ist die Explosion. In wenigen Jahren haben wir es geschafft, die Explosion der Vergangenheit heftig zu entschärfen. Wer heute meine Kürbissuppe isst, erlebt mit einem Löffel Suppe im Mund direkt eine Vielfalt von Explosionen des Geschmacks. Wie muss man sich das vorstellen? Gerade in den Medien explodiert angeblich alles an allen Stellen und in allen Situationen. Der Effekt ist, dass in unserem Verständnis von der Explosion eine Verharmlosung jeder Explosion stattfindet. In friedlichen Zeiten wäre das ja noch zu verstehen.

Der Explosion von gestern wird der Schrecken genommen und das kleine Ereignis wird aufgewertet. Man findet sich da schwerlich zurecht und verliert schließlich das Wort und läuft der Explosion sehenden Auges fröhlich entgegen. Das Wort ist verloren, aber die Gefahr bleibt.

Im Libanon explodieren gerade massenweise manipulierte Pager und Walkie-Talkies. Das ist tödlich! Doch gleichzeitig darf man es lustig finden, weil ein Geheimdienst da eine wegweisende Idee hatte, den Gegner punktgenau und trotzdem massenhaft abzuräumen.

Ziemlich para

Das olympische Feuer hat Tradition. Es ist ein weit sichtbares Zeichen dafür, dass der Sport für die Zeit der Spiele einen Vorrang hat und weltweite Friedfertigkeit einfordert. Am Ende der Spiele erlischt es.

Dass es seit einiger Zeit auch paraolympische Spiele gibt, hat die fortschreitende Gerechtigkeit von Vielfalt und Teilhabe  zur Grundlage.

Wer jetzt – wie so mancher Sportreporter – vom Paraolympischen Feuer spricht, hat wohl nicht viel davon verstanden. Es gibt keine zwei Olympischen Feuer.

PS • Die Eröffnung der parapoympischen Spiele war auch nicht  auf der Place de la Concorde, sondern auf dem Place de la Concorde, wenn man es als Berichterstatter in deutscher Sprache vorträgt.

Pizza Chicago Style

Die Pizza ist so eine Sache, die auch ohne Rezept oft zu schmackhaften Ergebnissen führt. Sie bietet sich geradezu für Innovationen an.

Mit einem autoritären Charakter ausgestattet, sucht man trotzdem unweigerlich nach einem „Original“.   Das fängt schon damit an, dass man vorträgt, die Pizza würde im Plural Pizze heißen. Da die  Pizza seit der Mitte des letzten Jahrhunderts weltweit eingebürgert wurde, gibt es eine unüberschaubare Vielfalt, die sich nicht nur auf den Belag beschränkt. Trotzdem ist die italienische Pizza die Referenzpizza für alle Abweichungen. Das liegt vor allem an den traditionell bodenständig wie weltläufigen Italienern, die nahezu weltweit Filialen für italian Food eingerichtet haben. Wohl deshalb wird auch die Geschichte weitergereicht, die italienische Grammatik würde auch den Plural  von Pizza festlegen. Das ist aber nicht so. Jede Sprache hat ihre eigene Grammatik, die immer auch für die Einbindung ausgeliehener Wörter gilt. Gerade gebildete Menschen mit autoritärem Charakter lassen das nicht gern gelten. Ihnen sind mehrere richtige Grammatiken suspekt und sie verlieren damit auch ihr Selbstverständnis, polyglott zu sein. Genauso wenig mögen sie alle Abweichungen von der „original italienischen Pizza“, die selbst in Italien bereits regionale Besonderheiten aufweist. 

Ich verfolge gerade die deutsche Debatte darüber, ob die Pizza Chicago Style, eine umgedrehte Abfolge der Beläge der italienischen Pizza etabliert. Dazu muss man wissen, dass die deutsche Pizza von Deutschen in der Regel für eine Pizza gehalten wird, die mit der italienischen identisch oder sogar besser ist. Dabei ist es so, dass in Italien der Käse in der Regel direkt auf die Tomaten kommt. Das bietet sich auch an! Denn anderenfalls würden die weiteren Zutaten abgeriegelt im Käse kochen, anstatt obenauf zu garen, Geschmack und eine angenehme Textur zu entwickeln. Der Deutsche neigt dagegen dazu, in einer Überbacken-Hysterie, den Käse obenauf zu platzieren – oft doppelt. Ich nenne das mal, wegen der großen Verbreitung in deutschen Haushalten, die deutsche Pizza. Ich mag die ja nicht. So gesehen ist die Pizza Chicago Style eigentlich eine Umkehr der deutschen Pizza: Der am Rand hochgezogene Boden wird üppig mit Käse gefüllt. Darauf kommen Tomaten und dann weitere Zutaten. – So vielfältig ist die Pizza. Man wird sie nicht in allen Varianten mögen.

Was ich auf keinen Fall mag, ist die unaufhaltsam gehandelte Auftaupizza und die Fastfoodpizza, die mit einem Aufpreis von 1 €  pro Zutat auch eine weitere Schicht von einem Zentimeter hervor bringt. Weniger ist mehr Geschmack und bessere Konsistenz – wenn Oregano dabei ist.

Mein Olympia VI: Spocht und Sprache

In diesen Tagen spiegelt sich der Disput darüber, ob man überhaupt Eskimorolle sagen darf …

Fachsprache der Kanuten: Kenterrolle
(verbindliches Ergebnis einer Gremienarbeit)

Alltagssprache: Eskimorolle
(Ergebnis zeitenüberdauernder Sprachpraxis)

Fachsprache der Sprachkünstler 1: nasse Frühlingsrolle
(Ergebnis von Fantasie und Denken)

Fachsprache der Sprachkünstler 2: kleines Boot in Wasserpanade
(Ergebnis von Fantasie und Denken)

Wobei die Alltagssprache sich der Ablage verbrauchter Bezeichnungen  der Fachsprache bedient und der Künstler ohnehin alles darf.

Im Tunnel

Als Kind habe ich das Wort Tunnel immer auf der zweiten Silbe betont. (Ich habe ohnehin immer sehr verrückte Sachen gemacht.) Durch den Druck der Straße habe ich unfreiwillig eine Anpassung durchgemacht und dabei auch Tunnel auf der ersten Silbe zu betonen gelernt. Bis heute habe ich darüber eigentlich nicht nachgedacht.

Und ausgerechnet heute berichtet das Fernsehen über einen der vielen Tunnel in der Schweiz. Da taucht eine deutschsprachige Schweizerin auf und betont Tunnel auf der zweiten Silbe. Wie kommt die nur darauf?

⚽️ Spielermaterial

Spielermaterial ist auch in der Fachwelt des Fußballs ein umstrittenes Wort. Es macht den autonomen, individuellen Spieler zur fremdverfügbaren Sachen. 

Ich aber sage euch: Das Wort heißt Spieler – einfach nur Spieler! — Etwas dranzuhängen bedeutet nur, dass der Sprecher wichtig genommen werden will, ohne etwas Wichtiges zu sagen.

In der diskutierten Vorschlagsliste zur Umbenennung wird Kader gesagt – ein Begriff aus der Militärfachsprache …

Auf alle Fälle

Fortuna Düsseldorf hat den Aufstieg in die erste Liga nach Sieg, Niederlage, Verlängerung, und Elfmeterschießen, dramatisch verpasst.

Da fehlt noch: DÜSSELDORF-FANS NACH DES SPIELS … unbedingt und auf alle Fälle!