Das Ohr ist nur ein Korridor

Wenn ich einmal nichts zu tun habe – das ist vorzugsweise bei verordneten Wartezeiten –  dann dokumentiere ich gern ausgesuchte Lebenswelten, meistens als Text, manchmal als Foto.

Ein typisches Beispiel folgt hier:

Wenn die Ohren verstopft sind, dann ist das ein dummes Gefühl. Meist ist ein Ohr besonders stark verstopft. Wenn man dann das andere Ohr zuhält, dann merkt man, dass das Hörvermögen auf der anderen Seite kaum noch eine Kommunikation zulässt und stattdessen das Hören sich nach innen wendet. Man hört also eigentlich alles, was im Kopf passiert, wie zum Beispiel knisterndes Stroh. Ich gehe dann zum Facharzt, der das Problem in wenigen Minuten gelöst hat. Er bot bisher früh morgens eine offene Sprechstunde an. Vor wenigen Jahren hat der Arzt noch mit mir über Gott und die Welt diskutiert zum Abschied gesagt, wenn es wieder so weit ist, solle ich ganz unproblematisch vorbei kommen.

Vor zwei Jahren gab es dann das Problem, dass die offene Sprechstunde gerade abgelaufen war, als ich kam. Die Diskussion dauerte eine Viertelstunde, bis ich als Ausnahme ins Wartezimmer durfte, nachdem der Arzt im Vorbeilaufen festgestellt hatte, dass niemand weggeschickt wird. 

Heute stand ich in geselliger Runde bereits vor der Praxis, bevor sie um 8 Uhr geöffnet wurde. Dann wurde mir gesagt, dass die offene Sprechstunde nur für Notfälle gilt und das auch nur für maximal zehn Personen. Der elfte Notfall ahnt also nicht, was ihn in seiner Not erwartet. Des Friedens Willen habe ich nicht gesagt, dass ich die Logik dieser Vorgabe nicht verstehe. Denn Notfälle sind ja so gelagert, dass in der Not niemals nach Termin gehandelt werden kann. Nach einer Beratung unter den Fachkräften wurde dann für mich eine Ausnahme gemacht, denn ich habe mich nicht abwimmeln lassen. Ich fühlte mich jetzt in die falsche Rolle des eingebildeten Kranken gedrängt, um eine Chance zur Behandlung zu bekommen. Dann gab es den Hinweis, ich solle demnächst rechtzeitiger kommen „Wir empfehlen alle drei Monate eine Reinigung“ (Zitat). Ja und dann durfte ich nach der weltfremden Ansprache mit Sondergenehmigung ins Wartezimmer und bin ganz hinten in einer nicht näher definierten Warteliste.

Mein Nachbar auf den Wartestühlen hustet, schnauft und schnieft auf das Schärfste und hat gerade wartezimmeröffentlich verkündet, dass er an einer schlimmen Allergie leidet und nicht anders kann. Ich glaube trotzdem nicht, dass seine kontaminierten Ausstoßwolken für die Mitmenschen so harmlos sind, wie er meint.

Nun denke ich darüber nach, ob ich mir beim nächsten Mal nicht von der Feuerwehr die Ohren ausspritzen lasse, wie es mir mein Opa damals empfohlen hat.

Auf der Website des Arztes taucht übrigens die offene Sprechstunde schon gar nicht mehr auf. Jetzt werden reihenweise Patienten kaltschnäuzig freundlich weg geschickt. Gerade kommt die Bundesgesundheitsministerin Warken in die Praxis, wohl um sich nach meinem Wohl zu erkundigen. — Oh, sie geht vorbei, tuschelt an der Theke und ist bald schon wieder weg. Schade! Aber vielleicht hat sie ja auch die Ohren verstopft oder sie ist eine Doppelgängerin.

Es sind zwei Stunden vergangen. Die ärztliche Behandlung war gut, schnell und erfolgreich. Bemerkenswert ist nur, dass das nicht merkbar betroffene Ohr auch absolut sauber war. Das führt ja auch den abermals formulierten Vorschlag ad absurdum, man solle die Ohren in Zeitabständen reinigen lassen. Offenbar ist jedes Ohr derart autonom, dass sich Reinigungsroutinen nicht empfehlen. Es bleibt nur die Frage, ob ein einziges Ohr abgerechnet wird oder auch noch ein anderes – wenn man gerade schon mal nah dran ist. Nach zwei Stunden war ich draußen. Leider war die freie Parkzeit von 90 Minuten abgelaufen. Ich habe zum Abschied den Automaten noch mal schnell mit zwei Euro gefüttert.

Jetzt wird zu Hause das Frühstück gefuttert …