Demokratie als immerwährendes Wagnis

Der Traum in allen Versuchen zur Demokratie war es stets, dass sich alle eine Meinung bilden, mitreden und mitbestimmen. Bert Brecht träumte 1923 in seiner Radiotheorie sogar davon, den gesellschaftlich unbestellten, aber technisch möglichen Distributionsapparat Radio in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln, in dem jeder jedem alles Mögliche sagen kann.

Die sozialen Netze sind nun heutzutage eine technische Erfindung, die ganz so überraschend wie ehemals das Radio etwas erlaubt, was zuvor nur geträumt wurde. Zunächst haben sehr viele das gar nicht gemerkt und das Netz wird eher zufällig als planmäßig besiedelt. Erst seitdem sich in den sozialen Netzen ein Alltag ausbreitet, der mit den demokratischen Ansprüchen sehr wenig zu tun hat, wird der demokratisch ambitionierten Mensch aufmerksam. Zunächst ist er noch verstört, weil die Wiese des herrschaftsfreien Dialogs so sehr vermüllt ist. Er spielt mit dem Gedanken, sich elitär abzusetzen und aus Protest nur noch Bücher zu lesen.
Aber eine andere Wiese gibt es nun mal nicht. Es wird also eine Weile dauern, bis die sozialen Netze mit dem Verständnis der Menschenrechte besiedelt sind.

So ist das nun mal!

Helferleinsyndrom

Jetzt ist es soweit: Wir haben ein Helferleinsyndrom!
Ganz unabhängig davon, ob in Berlin ein Syrer daran gestorben ist, dass er von deutschen Behörden in eine menschenunwürdige Warteschlange getrieben wurde, ganz unabhängig davon, ob er auch ohne dies gestorben wäre, und ganz unabhängig davon, ob es diesen Syrer überhaupt gibt:
Ich finde es menschenunwürdig und geschmacklos, über Nacht so jemanden einfach mal ungeprüft und schnell zu instrumentalisieren und durch die sozialen Netze und die Presse zu treiben, und damit die Sorge um Flüchtling mit einer kriegerischen, emotionalen Speerspitze zur Aufwertung der freiwilligen Helfer gegen versagende Behörden auszustatten.
Es ist schon alles schlimm genug. Und zu tun gibt es auch ne Menge. Diese Zusatzausstattung braucht niemand, der wirklich helfen will!

Falsche Fahnder [aus gegebenem Anlass]

Es ist schon sehr hysterisch, dass sich nun in den mehr und weniger sozialen Medien sogar selbsternannte Fahnder zur Aufklärung des Missbrauchs von Kindern einschalten, wenn ein Kind nicht mehr erreichbar ist.

Es ist ebenso schlimm, wenn Kinder, die so langsam erwachsen werden – heute aktuell eine A. in O. – die Entscheidung treffen, nicht mehr nach Hause zu gehen und dann plötzlich eine Armada selbsternannter Helfer per Mausklick das arme Geschöpf zum Treibjagdobjekt machen und dabei höchstens das Ziel verfolgen, dass alles wieder so wird wie früher. Das wird es aber nicht! Würde man A. ernst nehmen, dann würde man vermuten, dass es tiefe Gräben zwischen „zu Hause“ und A. gibt. Da ist niemandem geholfen, denen da zu Hause zu einem wirksamen Zugriff zu verhelfen. Wer reif ist, punktuell einen abweichenden Weg zu gehen, der ist sicherlich auch reif, diesen Weg zu einem glücklichen Ende zu führen und adäquate Hilfsstellen zu finden.

Im übrigen sei noch einmal drauf hingewiesen, dass solche Fahndungsaufrufe im Netz in die Persönlichkeitsrechte eingreifen und strafbar sind, so lange die Polizei keine bestimmten Details zum Anlass nimmt, ihrerseits zur Mitthilfe bei der Fahndung aufzurufen. Bisher hat die Polizei dazu keine Initiative ergriffen.

Stellt euch vor, ihr würdet, weil ihr eine nicht jedem verständliche Entscheidung über einen Aufenthalt trefft, eure höchstpersönliche Angaben mit Bild überall und für sehr lange Zeit im Web sehen.

Ein Vertrauen auf die Erziehung und die Beziehung zum Kind erscheint besonders fragwürdig, wenn hier der Vater selbst zur Jagd nach seinem Kind ruft.