Komplexität als Geschäftsmodell

Jetzt stellen wir in dem aufsehenerregende Prozess zum Unglück auf der Loveparade fest, dass es ein unentwirrbares Geflecht von Institutionen und Fehlentscheidungen in diesen Institutionen gegeben hat und dass in der Folge kaum konkreten Menschen dingfest gemacht werden können, die mehr als einen winzigen Teil zur Katastrophe beigetragen haben.
Das erscheint gerade so, als brauche man nur gehörig viel Komplexität, um sie aus der juristischen Verantwortung zu stehlen.
Die internationalen Finanzmärkte sind voll davon. Dort wird Geld generiert und niemand weiß so recht, wo das Geld herkommt und wer es rangeschleppt hat. Die juristischen Folgen sind immer schon unbefriedigend.
Erinnern wir uns an den Atomgau in Tschernobyl. Da gab es zwischen vielen Knöpfen ein menschliches Versagen, aber der ganze technologische und politische Überbau hatte direkt mitversagt. Man hätte es wissen können, hat aber nur für die Devise der Macher gearbeitet. Dass weiterhin ausrangierte Schiffe mit Atomantrieb verrotten und in den Weltmeeren alte Atomuboote auf Grund liegen, wird trotzdem weiterhin als Gefahr ausgeblendet. Hier in der Gegend ist das marode Atomkraftwerk von Tihange. Es ist abzusehen, dass bei einer Katastrophe die Verantwortung ebenfalls in der Komplexität verschwindet. Und wie ist das mit dem Stuttgarter Bahnhof, dem Brexit oder mit dem massenweise völkerrechtswidrigen Flüchtlingssterben? Das ist alles viel zu komplex um juristisch vermessen und ausgeleuchtet zu werden.
Offenbar müssen die Rechtsnormen ganz allgemein an der Komplexität ausgerichtet werden. Und wenn Komplexität unbeherrschbar und zum Geschäftsmodell wird, müsste man ja ganz andere Seiten aufziehen.

Überblick

Die Welt ist zu komplex, um immer und in jeder Situation wirklich verstanden zu werden. Deshalb neigen wir dazu, Hilfsmittel zu erarbeiten und zu nutzen, die die unendliche Vielfalt auf den Punkt bringen. Alles in allem treffen wir unsere Wahlentscheidungen auf der Basis eines Potpourries aus wilden Zurufen, bewährten Traditionen, emotionalen Bindung an Meinungsführer oder irgendwelche Chefs, durchgemixt im Bauchgefühl. Dagegen ist nichts einzuwenden, denn wir haben nur wenige Chancen, den Dingen auf den Grund zu gehen.

Ein Problem bleibt jedoch: die besonders komplexen Dinge auf der Welt beugen sich nicht einer Vereinfachung ohne Schaden zu nehmen. Deshalb neigt die veröffentlichte Meinung dazu, solche Sachen auszublenden und die ganz einfachen Dinge zu bevorzugen.
Es ist also kein Wunder, dass in diesen Tagen die Presse darüber berichtet, dass der Mann im Verhältnis zu seinem Vermieter mit Unterstützung eines Gerichts im Stehen pinkeln kann, ungeachtet aller anderen Einwände gegen das Pinkeln im Stehen.
Die öffentliche Beachtung solchen Gerichtsentscheidungen steigt also mit ihrer Bedeutungslosigkeit.