An alle Wahlgewinner: Auch Kluge und Dumme sind gleichberechtigt – so ist das in der Demokratie

Ich wende einmal meinen Blickwinkel ab von den vereinzelten Parteien, die nach der Wahl in Berlin absehbar, weiterhin darunter leiden, dass sich die Wählerstimmen nun ganz anders verteilen, als es über Jahrzehnte üblich war. Größere Parteien haben weniger Zuspruch. Kleinere Parteien und sogar neue Parteien haben an Zuspruch gewonnen.

Während die traditionellen größeren Parteien in der öffentlichen Berichterstattung irgendwie abgeschmiert sein sollen, sehe ich nicht einmal ein Debakel. Denn das, was den Ansprüchen der einzelnen Parteien hie und da verloren geht ist besonders gut für die Interessen des wählenden Bürgers.

Erinnern wir uns daran, dass die erste große Koalition der Nachkriegszeit 1966 eine kritische Öffentlichkeit auf den Plan rief, die um eine wirkmächtige Opposition fürchtete. Mittlerweile werden große Koalitionen unter diesem Aspekt nur noch selten thematisiert. Sie werden hauptsächlich als Garanten für eine starke Regierung gehandelt. Das Streitbare in der Demokratie ist wegorganisiert und der verbleibende Widerspruch aus dem verbleibenden Häuflein der Opponenten findet meist vor leeren Stühlen statt. Die Parteien konzentrieren sich auf sich selbst. Sie gewinnen ihr Ansehen nicht in Rededebatten, sondern in der endlosen Auffächerung ihrer „corporate identity“. Das Ziel, Wahlen zu gewinnen orientiert sich an „Benchmarks“ und widerspruchslosem Auftritt in der Öffentlichkeit. Die Forschung zeigt, dass der Bürger die Harmonie auch dann über alles liebt, wenn sich damit gar keine streitbare Demokratie herstellen lässt.

Der Effekt ist, dass die parteiübergreifenden Ziele, wie Wohlstand, Gerechtigkeit, Gesundheit und so weiter zur Floskel werden. Der Bürger merkt kollektiv nur zu gut, dass das, was da in der Politik der Parteien geschieht, mehr Behauptung und rhetorische Rechtfertigung ist, als das Ergebnis einer Auseinandersetzung um den mutmaßlich richtigen Weg. Am Beispiel: Wenn die Reichen so reich sind wie nie zuvor und die Armen immer ärmer werden, dann dauert es nicht lange, bis die Rechtfertigungen entlarvt sind und die politische Praxis in eine Legitimationskrise gerät. Der Widerspruch von Anspruch und Wirklichkeit läßt sich nicht mehr vermitteln und der Bürger reagiert auf seine Weise. Er fühlt sich immer weniger an tradierte Wahlentscheidungen gebunden und wendet sich verstärkt Parteien zu, die die Legitimationskrise nicht zu vertreten haben. Das sind dann Parteien, die nur selten oder gar nicht Regierungsverantwortung getragen haben.

Und schon finden wir ein Parteienspektrum vor, von dem der zur Demokratie motivierte Bürger nur träumen kann: Eine Vielfalt an Parteien, die keinen Spielraum für arrogante Auftritte und Selbstgefälligkeit lässt. Eine Partei muß einfach nur gut sein, um dem Bürger zeigen zu können, was er sehen will.

Eine über Jahrzehnte zementierte Macht hat stets dazu geführt, dass sich der Bürger abgewandt hat und der Funktionsträger keinen Anreiz hatte, seine Arbeit über den Machterhalt hinaus zu betreiben. Selbst in der Opposition war es oft nur möglich, auf die Gnade der Machthaber zu schielen. Ein gutes Beispiel ist die konservative Arbeit der SPD in den Kommunalparlamenten des Ruhrgebiets. Sie war so dominant, dass man lange Zeit beliebig walten könnte – bis es schließlich keine innovativen Kommunalpolitiker in den eigenen Rehen und kaum noch einen Parteinachwuchs gab. Die Jusos wurde zur versprengten aber trotzdem gehätschelten Splittergruppe unterhalb der Wahrnehmungsgrenze. Die Opposition stellte sich dauerhaft als geduldetes Nischenprodukt in Szene. Ein Beispiel was dagegen steht, ist die Kulturpolitik in der Stadt Frankfurt: Ständig mögliche wechselnde Mehrheiten waren Ansporn, eine weltweit beachtete Kulturszene zu gestalten, die selbstverständlich auch bei geänderten Mehrheiten fortgeführt wurde. Schließlich hatte der Bürger das Gefühl, dass seine Stimme etwas bewirkt.

Ich kann mir nur vorstellen, dass Parteien, die auch am Wählerzuspruch auf Augenhöhe ausgerichtet sind, vernünftiger streiten können als es bisher der Fall ist. Wenn es gelingt, dem Bürger zu zeigen, dass eine belebte Parlaments- und Straßenöffentlichkeit über den Disput getragen wird, anstatt sie mit Waren aus der Gedankenwelt der Parteizentralen zu unterlaufen, dann wird wohl alles ein bisschen besser.

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